Der Verräter von Westminster
und ging hinein, mit wenigen Schritten Abstand von Narraway und Charlotte gefolgt.
Die Königin saß in einem bequemen Sessel in ihrem gemütlich eingerichteten Salon, eine kleine ältere Dame mit Hakennase und rundem Gesicht, deren Haar in wenig schmeichelhafter Weise straff zurückgekämmt war. Sie trug von Kopf bis Fuß Schwarz, was die Blässe ihrer Haut noch unterstrich.
Der Raum war nicht besonders aufwendig eingerichtet, lediglich seine Höhe und die prächtige Verzierung der Decke wiesen die Besucher darauf hin, dass sie sich im Wohnsitz ihrer
Königin befanden. Als sie Lady Vespasia sah, zwinkerte sie einen Augenblick und lächelte dann.
»Lady Vespasia, wie angenehm, Sie zu sehen. Treten Sie näher.«
Die Angesprochene trat einen Schritt vor und versank in einem tiefen Hofknicks, wobei sie den Kopf leicht neigte und den Rücken vollkommen gerade hielt. »Majestät.«
»Wer sind jene?«, erkundigte sich die Königin mit kaum gesenkter Stimme und sah dabei auf Charlotte und Narraway, die hinter Vespasia standen. » Vermutlich Ihre Zofe. Der Mann sieht wie ein Arzt aus. Ich habe aber nach keinem Arzt geschickt. Mir fehlt nichts. Jeder hier im Hause behandelt mich wie eine Kranke. Ich möchte im Park spazieren gehen, und man hindert mich daran. Ich herrsche als Kaiserin über ein Viertel der Menschheit, und meine eigene Dienerschaft lässt mich nicht in meinen Park!« Ihre Stimme klang verdrießlich. »Lady Vespasia, kommen Sie und begleiten Sie mich hinaus.« Sie traf Anstalten aufzustehen, saß aber so tief in ihrem Sessel, dass ihr das wegen ihrer Körperfülle nicht ohne fremde Hilfe möglich war.
»Ich denke, es ist besser, wenn Sie sitzenbleiben, Ma’am«, sagte Vespasia mit freundlicher Stimme. »Ich bedaure, Ihnen unangenehme Dinge mitteilen zu müssen …«
»Vespasia!«, sagte Narraway mit mahnendem Unterton.
»Still, Victor«, gab sie zurück, ohne den Blick von der Königin zu nehmen. »Ihre Majestät hat einen Anspruch darauf, die Wahrheit zu erfahren.«
»Ich verlange das!«, fuhr Königin Viktoria auf. » Was geht hier vor sich?«
Narraway trat zurück und ergab sich mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte, in sein Schicksal.
»Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, Ma’am«, erklärte Lady Vespasia offen heraus, »dass Bewaffnete Ihr Anwesen umstellt
und besetzt haben. Ich weiß nicht, wie viele es sind, aber jedenfalls hat man Ihre Dienerschaft hier im Hause eingesperrt.«
Die Königin sah sie fassungslos an und richtete dann den Blick an ihr vorüber auf Narraway. »Und wer sind Sie? Etwa einer dieser … Verräter?«
»Nein, Ma’am. Bis vor wenigen Tagen war ich der Leiter Ihres Sicherheitsdienstes«, gab er zurück.
»Und warum sind Sie es nicht mehr? Wieso haben Sie Ihren Posten verlassen?«
»Man hat mich meines Amtes enthoben, Ma’am. Es ist das Werk von Verrätern innerhalb des Sicherheitsdienstes. Ich bin gekommen, um Ihnen zur Seite zu stehen, soweit mir das möglich ist, bis Hilfe kommt. Wir haben dafür gesorgt, dass das nicht lange dauert.«
»Wann wird sie kommen?«
»Ich hoffe, noch vor Einbruch der Dunkelheit, spätestens kurz danach«, erläuterte Narraway. »Der neue Leiter des Sicherheitsdienstes muss sich erst Gewissheit verschaffen, wem er trauen kann.«
Sie blieb einige Augenblicke reglos sitzen. Das Ticken der Standuhr erfüllte den Raum.
»Dann dürfte es das Beste sein, Haltung zu bewahren und abzuwarten«, sagte die Königin schließlich. »Notfalls werden wir kämpfen.«
»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit zu fliehen, bevor es zum Äußersten kommt …«, setzte Narraway an.
Königin Viktoria warf ihm einen aufgebrachten Blick zu. »Junger Mann, ich bin Königin von England und Herrscherin über das britische Weltreich. Wir sind, solange meine Herrschaft dauert, stets auf unserem Posten geblieben und haben in allen Winkeln der Erde Kriege gewonnen. Soll ich etwa in meinem eigenen Hause vor einer Handvoll Rüpel davonlaufen? Ausgerechnet hier in Osborne House?«
Narraway richtete sich ein wenig mehr auf.
Lady Vespasia hielt den Kopf hoch.
Charlotte merkte, dass auch sie sich unwillkürlich streckte.
»Schön, schön!«, sagte die Königin und sah alle drei mit einem Anflug von Billigung in den Augen an. »Getreu dem Wort eines meiner bedeutendsten militärischen Anführer, Sir Colin Campbell, der im Krimkrieg beim sogenannten Totenritt von Balaklawa vor der Schlacht gesagt hat: ›Hier stehen wir und hier sterben wir.‹« Mit kaum
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