Der Verräter von Westminster
hatte sie Recht. Pitt hätte selbst daran denken sollen. Wie konnte er nur! »Selbstverständlich«, stimmte er zu. »Und jetzt sollten wir uns eine Weile hinlegen.«
Als sie oben in ihrem Zimmer waren und die Tür geschlossen hatten, sah ihn Charlotte liebevoll und bittend an. »Es tut mir wirklich leid«, begann sie.
»Sag nichts«, unterbrach er sie. » Wir wollen einfach beieinander sein, solange wir die Möglichkeit dazu haben.«
Er streckte die Arme aus, sie trat auf ihn zu und umschlang ihn. Er war so müde, dass er fast im Stehen eingeschlafen wäre. Als sie sich einige Augenblicke später hinlegten, war ihm undeutlich bewusst, dass sie ihn nach wie vor umarmt hielt.
Am frühen Morgen brach Pitt auf, um in sein Amt zurückzukehren, während Charlotte, Lady Vespasia und Narraway mit der Kutsche über die Hauptstraße nach Süden zum nächstgelegenen Bahnhof fuhren, wo sie einen Zug nach Southampton nehmen und von dort mit der Fähre zur Isle of Wight übersetzen wollten.
»Sofern sich noch nichts Verdächtiges geregt haben sollte, könnte es schwierig werden, eine Audienz bei der Königin zu erwirken«, sagte Narraway, nachdem sie im Zug Platz genommen hatten. Das Rattern der Räder wirkte beruhigend auf alle drei. »Für den Fall aber, dass der Feind bereits sozusagen vor den Toren steht, müssen wir uns eine Lösung ausdenken, wie wir trotzdem hineingelangen.«
»Wie wäre es, wenn wir in Southampton eine Arzttasche kauften und sie mit einigen Fläschchen und Pülverchen aus einer Apotheke bestückten?«, schlug Charlotte vor. »Dann
könnte sich Victor als Arzt ausgeben und ich als Krankenschwester. « Mit einem Blick auf Lady Vespasia fügte sie hinzu: »Oder als deine Zofe. Ich habe zwar auf beiden Gebieten keine Erfahrung, trage aber einen hinreichend schlichten Mantel, um als die eine wie auch die andere durchzugehen.«
Nach kurzem Überlegen befand Lady Vespasia: »Glänzender Gedanke. Dann sollten wir aber für dich noch ein schlichteres Kleid und eine weiße Schürze ohne Verzierungen kaufen, die für beide Zwecke dienen kann. Ich denke, du gehst besser als Schwester, die den Arzt begleitet. Mit Zofen werden sich die Leute dort auskennen, über Krankenschwestern hingegen wissen sie vielleicht weniger. Bist du damit einverstanden, Victor?«
Belustigung blitzte in seinen Augen auf. »Selbstverständlich. Wir werden das alles erledigen, sobald wir in Southampton angekommen sind.«
»Befürchten Sie, wir könnten bereits zu spät kommen?«, fragte Charlotte.
Er versuchte gar nicht erst, ihr etwas vorzutäuschen, und sagte ja. »Ich an deren Stelle hätte inzwischen gehandelt.«
Wenige Stunden später erreichten sie das große und mit allen Bequemlichkeiten ausgestattete Anwesen, auf dem sich Königin Viktoria schon viele Jahre ihres Lebens aufgehalten hatte, ganz besonders nach dem Tod ihres Prinzgemahls Albert, weil sie dort wohl den Trost fand, den ihr keins ihrer zahlreichen prächtigen Schlösser bot.
Alles schien in der Frühlingssonne friedlich dazuliegen. Das Gras war leuchtend grün, und die meisten Bäume prangten in frischem Laub. Während der Schwarzdorn in voller Blüte stand, zeigten sich beim Weißdorn erste Knospen.
Den Palast hatte man in einer leicht gewellten Parklandschaft errichtet, wie sie so viele Anwesen außerordentlich wohlhabender Familien des Landes umgab. Neben einem großen Baumbestand
gab es ausgedehnte gepflegte Rasenflächen, die den Eindruck von Weiträumigkeit und Helle vermittelten. Prinz Albert, dem offensichtlich die Eleganz italienischer Landsitze ans Herz gewachsen war, hatte das Gebäude im Renaissancestil selbst entworfen. Es verfügte über zwei oben glatt abschließende herrliche viereckige Belvedere-Türme. Der Baukörper, in dessen hohen Fenstern sich das Sonnenlicht zu spiegeln schien, folgte den gleichen rechtwinkligen Linien wie diese Türme. Man konnte sich gut vorstellen, welche Pracht im Inneren herrschte.
Die Mietkutsche hielt an, sie stiegen aus und entlohnten den Kutscher.
»Bestimmt woll’n Se, dass ich warte«, sagte dieser mit freundlichem Nicken. »Se könn’n sich hier drauß’n umseh’n, das is’ alles. Wenn Ihre Majestät da is’, komm’n Se nich näher ran.«
Lady Vespasia gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. »Vielen Dank, guter Mann, Sie können umkehren.«
Er gehorchte achselzuckend, wendete sein Fahrzeug und brummelte etwas über die Ahnungslosigkeit von Touristen vor sich hin.
» Wir dürfen uns hier nicht
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