Der Verräter von Westminster
länger aufhalten«, sagte Narraway. In seiner Stimme lag Bedauern. »Noch kann ich nichts Verdächtiges erkennen. Alles sieht so aus, wie es meiner Vermutung nach sein müsste. Sogar ein Gärtner arbeitet da hinten. « Statt mit der Hand zu zeigen, nickte er in die Richtung.
Charlotte sah hin und erkannte einen über eine Hacke gebeugten Mann, der den Boden zu bearbeiten schien. Bei dieser heimelig wirkenden ländlichen Szene wich ein Teil ihrer Besorgnis von ihr. Vielleicht hatten sie sich unnötig geängstigt. Sie waren rechtzeitig gekommen. Jetzt mussten sie sich bemühen, nicht töricht zu wirken, nicht nur um ihrer Selbstachtung
willen, sondern auch, damit das Hofgesinde sie ernst nahm, wenn sie ihre Warnung vortrugen. Und dann würde Pitt bald Verstärkung schicken, Männer, die für diese Aufgabe geschult und ausgebildet waren, und die Gefahr würde vorüber sein.
Es sei denn, sie hatten sich geirrt, und der Schlag würde anderswo geführt. War auch das hier nichts als ein glänzend geplantes Ablenkungsmanöver?
Narraway zwang sich im Sonnenlicht zu einem Lächeln. »Ich komme mir mit dieser Tasche jetzt ein wenig lächerlich vor.«
»Halte sie bitte so, als sei sie dir sehr wichtig«, sagte Vespasia ganz leise. »Du wirst sie brauchen. Der Mann dahinten ist ebenso wenig Gärtner, wie du Arzt bist. Er kann ganz offensichtlich kein Unkraut von einer Blume unterscheiden. Seht nicht hin, damit er nicht gewarnt wird. Ein Arzt, der zur Königin gerufen wird, kümmert sich nicht um Männer, die Petunien die Triebe abhacken.« Während Lady Vespasia das sagte, stand sie gerade aufgerichtet und trug den Kopf mit ihrem modischen Hut so stolz und hoch erhoben, als stehe sie im Begriff, als Ehrengast ein Gartenfest zu besuchen.
Charlotte spürte, wie ihr die Sonne in die Augen stach. Der riesige Bau schien vor ihren Blicken zu verschwimmen.
Am Eingang trafen sie auf einen Haushofmeister, dessen weiße Haare so straff nach hinten gekämmt waren, als habe er sie ausreißen wollen. Er erkannte Lady Vespasia sogleich.
»Guten Tag«, begrüßte er sie mit zittriger Stimme. »Bedauerlicherweise fühlt sich Ihre Majestät heute ein wenig unwohl und empfängt keine Besucher. Wie schade, Lady Vespasia, dass wir von Ihrem Kommen nicht rechtzeitig unterrichtet waren, um Ihnen das mitzuteilen. Ich würde Sie gern wenigstens ins Haus lassen, aber wie das Unglück es will, hat eins unserer Mädchen eine fiebrige Entzündung, und wir befürchten,
dass sich Besucher anstecken könnten. Ich bedaure aufrichtig …«
»Wie betrüblich für die Arme«, sagte Lady Vespasia in mitleidvollem Ton. »Und natürlich auch für Sie alle. Sie tun selbstverständlich gut daran, die Sache ernst zu nehmen. Zum Glück werde ich von Dr. Narraway begleitet, der sicher gern bereit ist, sich das Mädchen einmal anzusehen, um für sie zu tun, was er kann. Mitunter hilft bei einer solchen fiebrigen Entzündung ein wenig Chinin-Tinktur. Vielleicht könnte das Ihrer Majestät ebenfalls von Nutzen sein. Es wäre nicht auszudenken, wenn sie sich anstecken würde.«
Der Haushofmeister wand sich und wusste ganz offensichtlich nicht, was er sagen sollte. Er holte Luft, setzte zum Sprechen an, brachte aber kein Wort heraus. Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er zwinkerte heftig.
»Ich sehe, dass Sie sich große Sorgen um sie machen«, sagte Lady Vespasia in ruhigem Ton, wobei ihre Stimme trotz aller Mühe, sie zu beherrschen, leicht zitterte. »Vielleicht sollten wir Dr. Narraway nach ihr sehen lassen. Es ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern auch der Klugheit. Falls die ganze Dienerschaft angesteckt würde, kämen Sie in eine schwierige und äußerst unangenehme Lage.«
»Lady Vespasia, ich kann unmöglich …«
Bevor er den Satz beenden konnte, trat ein stämmig gebauter dunkelhaariger Mann um die Mitte dreißig an die Tür, der ebenfalls die Livree des königlichen Haushalts trug.
»Sir«, sagte er zu dem Haushofmeister, »vielleicht hat die Dame ja Recht. Ich hab grade gehört, dass es der arm’n Molly schlechter geht. Nehm’n Se also das Angebot ruhig an un’ lass’n Se die Leute rein.«
Der Haushofmeister sah den Jüngeren voller Hass und Abscheu an, gab aber nach einem verzweifelten Blick zu Lady Vespasia nach.
Mit einem höflichen »Danke« trat sie über die Schwelle, gefolgt von Charlotte und Narraway.
Kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen, als ihnen aufging, dass sie gefangen waren. Weitere Männer standen am Fuß
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