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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wahrnehmbarem Lächeln fügte sie hinzu: »Aber da es bis dahin noch eine Weile dauern kann, dürfen Sie sich gern setzen.«

KAPITEL 12
    Pitt kehrte in dem Bewusstsein nach Lisson Grove zurück, dass er dort, von Stoker abgesehen, mit keinen Verbündeten rechnen konnte und die Sicherheit der Königin, wenn nicht des gesamten Königshauses, gleichsam allein von ihm abhing. Während er die Stufen emporging und ins Haus trat, spürte er überrascht, wie nahe ihm das ging. Er empfand eine tiefe innere Bindung an die Monarchie. Sie galt nicht der alten Frau, die in einsamer Witwenschaft in einem als »Haus« bezeichneten Palast auf der Isle of Wight die Erinnerungen an den Gatten pflegte, den sie bewundert hatte. Millionen Menschen waren einsam, und viele von ihnen ein Leben lang, außerdem waren die meisten von ihnen arm, oft auch krank, und dennoch ertrugen sie beides tapfer und voll Würde. Sondern sie galt der Verkörperung dessen, was Großbritannien für sein Leben bedeutete.
    Für ihn verkörperte die Monarchin außer Großbritanniens Führungsanspruch in der Welt den Gedanken der Einheit, die ein Viertel des Erdballs zusammenhielt und die wichtiger war als alle Unterschiede von Rasse, Religion und äußeren Umständen. Gewiss, in der Gesellschaft gab es unübersehbar Habgier, Überheblichkeit und Eigennutz, aber auch viel Gutes, nämlich Tapferkeit, Großzügigkeit und vor allem Treue. Was
war ein Mensch wert, der keine Werte kannte, die über sein Ich hinauswiesen?
    All das hatte mit der Person der Königin so gut wie nichts zu tun, und erst recht nichts mit dem Prinzen von Wales. Der noch nicht lange zurückliegende Mordfall im Buckingham Palast beschäftigte Pitt nach wie vor. Er konnte die rücksichtslose Selbstsucht des Prinzen ebenso wenig vergessen wie dessen Dünkel, der ihn veranlasste, andere Menschen nicht zur Kenntnis zu nehmen, oder den hassvollen Blick, mit dem er ihn nach der Aufklärung des Falles bedacht hatte – und er durfte das auch nicht vergessen. Möglicherweise würde der Prinz schon bald als König Edward VII. herrschen und damit zumindest teilweise Einfluss auf Pitts weitere Laufbahn als Diener der Krone nehmen. Pitt hätte lieber einen Besseren auf dem Thron gesehen, doch hielt er der Krone unabhängig von persönlichen Enttäuschungen die Treue.
    Jetzt konzentrierte er all seine Bemühungen darauf, Austwick in Schach zu halten. Wem sollte er trauen? Unmöglich würde er die Aufgabe allein bewältigen können. Gewiss, er hatte mit Lady Vespasia, Narraway und Charlotte Verbündete in diesem Kampf, doch musste er sich zwingen, nicht an sie zu denken. Auf keinen Fall durfte er an die Gefahr denken, der sie ausgesetzt waren. Zu den Belastungen, die Führerschaft mit sich brachte, gehörte, dass man alles Persönliche ausblenden und sein Handeln ganz und gar auf das allgemeine Wohl ausrichten musste.
    Auf seinem Weg durch die vertrauten Gänge hätte er fast unwillkürlich sein früheres Büro aufgesucht, in dem jetzt ein anderer arbeitete, und nicht jenes, das Narraway gehört hatte und in das dieser zurückkehren würde, wenn die Krise bewältigt war.
    Nachdem er die Tür geschlossen und sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, war er froh, Narraways persönliche Gegenstände
wieder dorthin gebracht zu haben. Er verhielt sich keine Sekunde lang wie jemand, der dieses Amt auf Dauer auszuüben gedachte. Die Zeichnungen mit den Bäumen hingen ebenso wieder an den Wänden wie die mit dem Turm am Meer. Sogar das Foto von Narraways Mutter befand sich wieder an Ort und Stelle. Sie war ebenso schlank und dunkelhaarig wie er, aber zierlicher, eine Frau, der die Klugheit aus den Augen blitzte.
    Einen Augenblick lang lächelte Pitt, dann wandte er seine Aufmerksamkeit den frisch eingetroffenen Berichten auf seinem Schreibtisch zu. Es waren nur wenige, und sie enthielten unerhebliche Aussagen über Dinge, die ihm zum größten Teil bereits bekannt waren – nichts befand sich darunter, was in irgendeiner Weise etwas an der bedrohlichen Situation geändert hätte.
    Er erhob sich und suchte Stoker in dessen Büro auf. Wenn er ihn zu sich riefe, würden die anderen misstrauisch werden. Er brauchte unbedingt jemanden, auf den er sich verlassen konnte, sonst wäre sein Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn Stoker ihm half, waren die Erfolgsaussichten verzweifelt gering.
    »Ja, Sir?«, sagte Stoker, der sich bei Pitts Eintreten erhoben hatte, in fragendem Ton. Er sah ihm ins Gesicht, als

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