Der Verrat
in einer anderen Welt.
»Das Beängstigende an der Obdachlosigkeit ist das, was man nicht auf der Straße sieht. Etwa die Hälfte aller Armen muss siebzig Prozent ihres Einkommens dafür aufwenden, um ihre Wohnung zu halten. Nach der offiziellen Statistik dürfte die Wohnung aber nur ein Drittel des Einkommens kosten. Es gibt in dieser Stadt Zehntausende, die am Rande der Obdachlosigkeit stehen - ein verspäteter Gehaltsscheck, ein unerwarteter Krankenhausaufenthalt, ein unvorhergesehener Notfall, und sie verlieren ihre Wohnung.«
»Und wohin gehen sie dann?«
»Meistens nicht direkt in die Notunterkünfte. Zuerst wohnen sie bei Verwandten, dann bei Freunden. Die Belastung ist gewaltig, denn diese Verwandten und Freunde wohnen ebenfalls in Sozialwohnungen, und in den Verträgen ist genau festgelegt, wie viele Menschen dort wohnen dürfen. Wer hilft, ist also gezwungen, gegen seinen Vertrag zu verstoßen, und das ist ein Kündigungsgrund.
Sie wohnen also mal hier, mal da. Ein Kind lassen sie bei der Schwester, ein anderes bei einer Freundin. Es geht immer weiter bergab. Viele Obdachlose haben Angst vor den Notunterkünften und tun alles, um nicht dort zu landen.«
Er hielt inne und nahm einen Schluck Kaffee. »Warum?« fragte ich.
»Nicht alle Notunterkünfte sind sicher. Es hat Schlägereien gegeben, Überfälle, ja sogar Vergewaltigungen.«
Und hier sollte ich also den Rest meines Berufslebens verbringen. »Ich habe vergessen, meinen Revolver einzustecken«, sagte ich.
»Ihnen passiert nichts. Es gibt hier Hunderte freiwilliger Helfer, und ich habe noch nie gehört, dass einem von ihnen was passiert wäre.«
»Das freut mich.« Wir fuhren weiter, ein wenig sicherer als zuvor.
»Etwa die Hälfte der Leute hat irgendwelche Drogenprobleme, wie Ihr Freund Devon Hardy. Das kommt sehr häufig vor.«
»Was können wir für sie tun?«
»Leider nicht allzu viel. Es gibt noch ein paar Hilfsprogramme, aber es ist schwer, einen Platz zu finden. Hardy konnten wir in einer Rehabilitationsklinik für Kriegsveteranen unterbringen, aber er hat die Therapie abgebrochen. Der Süchtige entscheidet, wann er seine Sucht loswerden will.«
»Und welche Droge wird am häufigsten gebraucht?«
»Alkohol. Der ist am erschwinglichsten. Außerdem viel Crack, weil das ebenfalls billig ist. Man sieht so ziemlich alles. Designerdrogen sind zu teuer und darum eher selten.« »Worum wird es bei meinen ersten fünf Fällen gehen?«
»Sie sind nervös, stimmt’s?«
»Ja, und ich habe keine Ahnung, was mich erwartet.«
»Nur die Ruhe. Die Fälle sind nicht kompliziert, aber Sie werden Geduld brauchen. Dem einen wird eine ihm zustehende Unterstützung, wahrscheinlich Lebensmittelgutscheine, verweigert. Der andere will sich scheiden lassen. Einer hat eine Beschwerde gegen seinen Vermieter. Oder gegen den Arbeitgeber. Außerdem werden Sie garantiert auch ein Strafverfahren kriegen.«
»Was für eine Art von Strafverfahren?«
»Kleinkram. Der Trend geht dahin, Obdachlosigkeit zu kriminalisieren. In den großen Städten sind Verordnungen erlassen worden, die sich ausschließlich gegen Menschen richten, die auf der Straße leben: Man darf nicht betteln, nicht auf einer Bank schlafen, nicht unter einer Brücke kampieren, keine persönlichen Gegenstände in einem öffentlichen Park lagern, nicht auf dem Bürgersteig sitzen, nicht in der Öffentlichkeit essen. Viele dieser Verordnungen sind von Gerichten aufgehoben worden. Abraham hat großartige Arbeit geleistet, als er Bundesrichter davon überzeugt hat, dass diese miesen Verordnungen gegen den ersten Verfassungszusatz verstoßen. Also sind die Städte dazu übergegangen, allgemein gehaltene Gesetze anzuwenden: gegen Herumlungern, gegen Landstreicherei, gegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit. Damit zielt man auf die Obdachlosen. Wenn ein Typ in einem schicken Anzug sich in einer Bar betrinkt und draußen an die Wand pinkelt, interessiert das niemanden. Wenn ein Obdachloser an dieselbe Wand pinkelt, wird er wegen öffentlichen Urinierens festgenommen. Razzien sind an der Tagesordnung.«
»Razzien?«
»Ja. Sie nehmen sich eine bestimmte Gegend der Stadt vor, sammeln alle Obdachlosen ein und karren sie irgendwo anders hin. Das haben sie vor den Olympischen Spielen in Atlanta gemacht. All diese Armen sollten nicht unter den Augen der ganzen Welt betteln und auf Parkbänken schlafen. Also haben sie die Einsatzkommandos losgeschickt und das Problem beseitigt. Und dann hat die Stadt damit
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