Der Verrat
Radikaler.«
»Es ist Montag morgen. Wo haben Sie in den letzten sieben Jahren den Montagmorgen verbracht?«
»An meinem Schreibtisch.«
»An einem sehr schönen Schreibtisch.«
»Ja.«
»In einem sehr eleganten Büro.«
»Ja.«
Er grinste mich breit an und sagte: »Dann sind Sie jetzt ein Radikaler.«
Und damit war meine Einweisung beendet.
Rechts an einer Straßenecke standen ein paar dick vermummte Männer um einen tragbaren Gasofen. Wir bogen ab und parkten am Randstein. Das Gebäude war einst, vor vielen Jahren, ein Kaufhaus gewesen. Auf einem handgemalten Schild stand: Samaritan House.
»Es ist eine private Unterkunft«, sagte Mordecai. »Neunzig Betten, anständiges Essen, finanziert von einem Verband von Kirchengemeinden in Arlington. Wir kommen seit sechs Jahren hierher.«
Ein Lieferwagen einer Lebensmittelsammelstelle stand vor dem Eingang; freiwillige Helfer luden kistenweise Gemüse und Obst aus. Mordecai sprach mit einem älteren Mann, der an der Tür stand, und wir durften eintreten.
»Ich werde Sie kurz herumführen«, sagte Mordecai. Während wir durch das Erdgeschoß gingen, hielt ich mich dicht bei ihm. Es war ein Labyrinth aus kurzen Korridoren, mit kleinen Räumen zu beiden Seiten, deren Wände aus Spanplatten bestanden. Jeder Raum hatte eine mit einem Schloss versehene Tür. Eine stand offen. Mordecai warf einen Blick in das Zimmer und sagte: »Guten Morgen.«
Ein kleiner Mann mit wildem Blick saß auf der Bettkante und starrte uns an, sagte aber nichts. »Das ist ein gutes Zimmer«, sagte Mordecai. »Ein abschließbarer Raum mit einem Bett, Platz für persönliche Dinge und Elektrizität.« Er betätigte einen Schalter neben der Tür, und die Glühbirne einer kleinen Lampe erlosch. Der Raum war für einen Augenblick dunkel, dann schaltete Mordecai das Licht wieder an. Der wilde Blick des Mannes blieb unverändert.
Das Zimmer war nach oben offen; die Decke des alten Kaufhauses war zehn Meter über uns.
»Gibt es Badezimmer?« fragte ich.
»Die sind hinten. Private Badezimmer gibt es nur in wenigen Unterkünften.
Schönen Tag noch«, sagte er zu dem Mann auf dem Bett. Der nickte nur.
Ein paar Radios waren eingeschaltet; einige brachten Musik, andere Nachrichten.
Menschen gingen umher. Es war Montag morgen, und sie mussten zur Arbeit oder hatten andere Dinge zu erledigen.
»Ist es schwer, hier einen Platz zu bekommen?« fragte ich und ahnte bereits die Antwort.
»So gut wie unmöglich. Die Warteliste ist kilometerlang, und jeder, der hier einziehen will, muss sich einem Drogentest unterziehen.«
»Und wie lange bleiben die Leute hier?«
»Das ist unterschiedlich. Im Durchschnitt ungefähr drei Monate. Es ist eine der besseren Unterkünfte - hier ist man sicher. Sobald sich einer wieder gefangen hat, versucht man, eine bezahlbare Wohnung für ihn zu finden.«
Er stellte mich der Leiterin vor, einer jungen Frau in schwarzen Militärstiefeln. Ich war »unser neuer Anwalt«. Sie hieß mich willkommen. Die beiden unterhielten sich über einen Mandanten, der verschwunden war, und ich schlenderte durch die Korridore, bis ich die Abteilung für Familien gefunden hatte. Ich hörte ein Baby weinen und kam an eine offene Tür. Dieser Raum war größer als die anderen und in zwei kleine Zimmer unterteilt. Eine untersetzte Frau, nicht älter als fünfundzwanzig, saß mit nacktem Oberkörper auf einem Stuhl und stillte einen Säugling. Meine Gegenwart schien sie nicht im mindesten zu stören. Auf dem Bett tobten zwei Kleinkinder herum, und aus dem Radio kam Rap.
Die Frau legte die Hand an ihre freie Brust und bot sie mir an. Ich floh den Korridor entlang und fand Mordecai.
Die Mandanten erwarteten uns bereits. Unsere Beratung fand in einer Ecke des Speisesaals statt, neben der Küche. Wir liehen uns vom Koch einen Klapptisch, Mordecai schloss einen Aktenschrank auf, der in der Ecke stand, und damit war die Kanzlei geöffnet. Auf an der Wand aufgereihten Stühlen saßen sechs Leute.
»Wer ist der erste?« fragte Mordecai, und eine Frau nahm ihren Stuhl und setzte sich uns gegenüber. Wir hielten Block und Bleistift bereit und waren ihre Anwälte - der eine ein Veteran, der andere völlig unbeleckt.
Sie hieß Waylene und war siebenundzwanzig Jahre alt. Unverheiratet, zwei Kinder.
»Die eine Hälfte wohnt hier«, sagte Mordecai, während er sich Notizen machte,
»die andere kommt von der Straße.«
»Und wir nehmen jeden?«
»Jeden, der obdachlos ist.«
Waylenes Problem war nicht
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