Der Verrat
geprahlt, wie hübsch alles aussah.«
»Wohin haben sie die Leute gebracht?«
»Jedenfalls nicht in Notunterkünfte - die gibt es dort nämlich nicht. Sie haben sie einfach hin und her geschoben, von einem Stadtteil zum anderen, und sie auf- und abgeladen wie Müll.« Er nahm einen Schluck Kaffee und verstellte den Heizungsregler. Fünf Sekunden ohne eine Hand am Steuer. »Vergessen Sie nicht, Michael: Jeder muss irgendwo sein. Diese Leute haben keine Alternative. Wenn man hungrig ist, bettelt man, um essen zu können. Wenn man müde ist, schläft man, wo man einen Platz findet. Auch wenn man obdachlos ist, muss man irgendwo leben.«
»Werden sie verhaftet?«
»Jeden Tag, und das ist eine idiotische Politik. Stellen Sie sich einen Mann vor, der auf der Straße lebt. Mal schläft er in einer Notunterkunft, mal nicht.
Er arbeitet irgendwo und bekommt den Mindestlohn, und er gibt sich alle Mühe, wieder Tritt zu fassen und sein Leben in den Griff zu bekommen. Dann wird er verhaftet, weil er unter einer Brücke geschlafen hat - aber jeder muss irgendwo schlafen. Er ist schuldig, weil der Stadtrat in seiner unendlichen Weisheit beschlossen hat, dass es ein Verbrechen ist, obdachlos zu sein. Er muss dreißig Dollar bezahlen, um aus dem Gefängnis zu kommen, und noch einmal dreißig Dollar Strafe. Sechzig Dollar aus einer sehr dünnen Brieftasche. Und der Mann rutscht noch eine Stufe tiefer. Man hat ihn verhaftet, erniedrigt und bestraft, und er soll nun seinen Fehler einsehen und sich eine Wohnung suchen. Er soll nicht auf der Straße; sein. Das passiert in den meisten Städten.« »Wäre er im Gefängnis nicht besser dran?« »Waren Sie in letzter Zeit mal im Gefängnis?« »Nein.«
»Gehen Sie lieber nicht hin. Die Polizisten sind nicht ausgebildet für den Umgang mit Obdachlosen, besonders was die Geistesgestörten und Süchtigen betrifft. Die Gefängnisse sind überfüllt. Das Strafvollzugssystem ist ein Alptraum ganz eigener Art, und dadurch, dass man die Obdachlosen verfolgt, belastet man es nur noch mehr. Und das Idiotischste ist: Ein Häftling kostet pro Tag fünfundzwanzig Prozent mehr als Unterkunft, Essen, Beförderung und Beratung eines Obdachlosen. Diese Hilfs- und Beratungsdienste hätten einen langfristigen Nutzen und wären natürlich sinnvoller. Fünfundzwanzig Prozent. Und darin sind die Kosten für die Verhaftung und das bürokratische Verfahren noch gar nicht enthalten. Die meisten Städte sind sowieso pleite, besonders Washington -
deswegen schließen sie ja die Notunterkünfte -, und doch werfen sie Geld zum Fenster hinaus, indem sie Obdachlose zu Kriminellen machen.«
»Das riecht nach einer Klage«, sagte ich, doch er brauchte kein Stichwort.
»Wir klagen wie verrückt. Im ganzen Land gehen Rechtsanwälte gegen diese Verordnungen an. Die verdammten Stadtverwaltungen geben für Rechtsanwälte mehr Geld aus als für Notunterkünfte. Man muss dieses Land lieben. New York, die reichste Stadt der Welt, kann seinen Bürgern kein Dach über dem Kopf garantieren. Also schlafen viele Menschen auf den Straßen und betteln in der Fifth Avenue, und das empört die feinfühligen New Yorker, die Rudy Soundso wählen, weil er ihnen verspricht, die Straßen sauber zuhalten, und der lässt seine erlauchten Stadträte dann eine Verordnung verabschieden, nach der Obdachlosigkeit verboten ist, einfach so: betteln, auf dem Bürgersteig sitzen, obdachlos sein - alles verboten. Sie kürzen Ausgaben wie verrückt, sie schließen Notunterkünfte und streichen Zuschüsse, und gleichzeitig werfen sie New Yorker Anwälten, die diese Art von Armutsbekämpfung verteidigen, ein Vermögen in den Rachen.«
»Wie schlimm ist es in Washington?«
»Nicht so schlimm wie in New York, aber auch nicht viel besser, fürchte ich.«
Wir waren in einem Teil der Stadt, durch den ich noch vor zwei Wochen nicht einmal bei Tageslicht in einem gepanzerten Wagen gefahren wäre. Die Geschäfte waren mit schweren Gittern gesichert. Die Wohnhäuser waren hoch und wirkten leblos, und auf den Baikonen hing Wäsche. Die Gebäude waren grau und geprägt von jener architektonischen Fadheit, die eine Voraussetzung für eilig vergebene Bundesgelder zu sein scheint.
»Washington ist eine Stadt mit einem hohen Anteil von Schwarzen und Wohlfahrtsempfängern«, fuhr Mordecai fort. »Es kommen eine Menge Leute hierher, die eine Veränderung wollen, eine Menge Aktivisten und Radikale. Leute wie Sie.«
»Ich bin doch wohl kaum ein Aktivist oder
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