Der Verrat
Ihre Ehe erinnerte Reiko inzwischen an eine Seifenblase, die sie und Sano umhüllte, glänzend und schimmernd – ein Gebilde von perfekter harmonischer Form, das aber so zerbrechlich war, dass die kleinste unvorsichtige Berührung es zerstören konnte.
Reiko wünschte sich sehnlichst, wieder mit Sano zusammenzuarbeiten – und sie spürte, dass er ihre Hilfe vermisste –, doch sie befürchtete, durch einen erneuten Fehler bei ihrer Zusammenarbeit das empfindliche Gleichgewicht ihrer Beziehung zu gefährden.
»Ich hoffe sehr, die Ermittlungen dauern nicht lange«, sagte Midori mit sorgenvoller Miene und riss Reiko aus ihren Gedanken. »Nicht nur für Sano, auch für Hirata- san und mich. Wir können erst heiraten, wenn der Fall abgeschlossen ist.«
Midori war seit Jahren in Sanos obersten Gefolgsmann verliebt, doch Hirata hatte ihre Liebe erst vor kurzem erkannt – und war sich darüber klar geworden, dass auch er Midori liebte. Nachdem sie einander ihre Gefühle gestanden hatten, planten sie nun ihre Heirat.
»Hab Geduld«, beruhigte Reiko die Freundin und schaukelte den quengelnden Masahiro auf dem Schoß. »Es gibt keinen Grund zur Eile. Du und Hirata- san könnt noch das ganze Leben gemeinsam verbringen.«
Doch Midori kaute furchtsam auf dem Daumennagel; die anderen Nägel hatte sie bereits abgekaut. »Wenn es doch nur schon so weit wäre!«, sagte sie seufzend. »Die Eltern von Hirata- san waren alles andere als glücklich, als er ihnen sagte, dass er mich zur Frau nehmen will.« Midoris rundes Gesicht war in letzter Zeit schmaler geworden; ihre rosigen Wangen waren bleich, und die unerschütterliche Fröhlichkeit war von ihr abgefallen. Ihre sonst so fröhlich funkelnden Augen blickten stumpf und glanzlos, und statt Lebensfreude spiegelte sich Furcht darin. »Und auch mein Vater war böse auf mich, als ich um den miai gebeten habe.«
Ein miai war das förmliche erste Treffen zwischen der Braut, dem Bräutigam und deren Familien. Bei diesem Ritual wurden Geschenke ausgetauscht, die Höhe der Mitgift ausgehandelt und die Einzelheiten der Hochzeit abgesprochen; wurde man sich einig, stand einer Heirat nichts mehr im Weg, sofern beide Familien mit dem zukünftigen Ehepartner einverstanden waren.
»Keine Angst, Midori. Du weißt doch, dass mein Gemahl den miai bereits vereinbart hat«, sagte Reiko beruhigend. Sano, der als Hiratas Mittelsmann fungierte, hatte beide Familien trotz ihres Widerstrebens dazu gebracht, an dem Treffen teilzunehmen.
»Aber der miai ist schon für morgen angesetzt!«, jammerte Midori. »Was ist, wenn Hirata so sehr mit den Ermittlungen beschäftigt ist, dass er nicht kommen kann? Was ist, wenn seine Familie mich nicht will oder wenn meine ihn nicht haben möchte?«
In Anbetracht der Umstände bestanden diese Möglichkeiten durchaus; dennoch sagte Reiko: »Mach dir nicht so viele Sorgen, Midori. Du musst auf das Beste hoffen.«
Plötzlich glitt die Tür zur Seite, und ein Schwall kalter Luft wehte in den Saal. Schweigen breitete sich aus, als eine würdevolle ältere Dienerin eintrat und mit lauter Stimme verkündete: »Die ehrenwerte Fürstin Yanagisawa und ihre Tochter Kikuko!«
Die Gespräche erstarben, und aller Blicke richteten sich auf die Neuankömmlinge, die nun mit bedächtigen Schritten den Saal betraten: eine Frau Mitte dreißig und ein kleines Mädchen von vielleicht acht Jahren.
»Sind das die Gemahlin des Kammerherrn und ihre Tochter?«, flüsterte Midori.
»Ja.« Die Neugier belebte Reikos müden Verstand. »Aber warum sind sie hier? Sie nehmen sonst nie an solchen Feiern teil.«
Fürstin Yanagisawa war eine unscheinbare Frau in einem schmucklosen schwarzen Brokatkimono; ihr reizloses Gesicht mit den schmalen Lippen und der zu langen Nase zeigte eine solche Leere und Ausdruckslosigkeit, dass man ihre Gedanken und Gefühle nicht zu erkennen vermochte, zumal auch ihre schmalen Augen nichts verrieten.
Ganz anders ihre Tochter Kikuko. Sie trug einen prächtigen rosafarbenen, mit silbernen Vögeln bestickten Kimono. Das Mädchen war eine Schönheit und hatte die gerade, schlanke Gestalt, die funkelnden schwarzen Augen und die ebenmäßigen Züge vom Vater geerbt. Neugierig ließ sie den Blick über die Gesichter der Anwesenden schweifen.
Einige Frauen eilten zur Saalmitte, um das Paar zu begrüßen. Dann führten sie Fürstin Yanagisawa und Kikuko zu einer Nische, wo die beiden Platz nahmen und von eilfertigen Dienerinnen mit Tee und Imbissen versorgt wurden.
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