Der Verrat
vorsichtig sein, um sich und seine Leute nicht in Gefahr zu bringen, indem er Mitleid mit einer Frau zeigte, die möglicherweise in einen Angriff auf den Tokugawa-Klan verwickelt war. Deshalb durfte er nicht riskieren, sich der Verhaftung der yarite in den Weg zu stellen, obwohl ihre Schuld längst nicht erwiesen war. Zugleich aber musste er dem Übereifer Hoshinas Einhalt gebieten. Sano beschloss, einen Mittelweg einzuschlagen.
»Also gut«, sagte er. »Nehmt die Frau fest.«
Momoko schrie verzweifelt auf, als Hayashi und Yamaga sie zur Tür zerrten. »Aber wenn ihr irgendetwas geschieht«, wandte Sano sich mit kalter Stimme an Hoshina, »oder wenn Ihr sie ohne meine Erlaubnis vor Gericht stellen lasst, werde ich an die Öffentlichkeit bringen, dass Ihr meine Ermittlungen behindert, weil Ihr es vorzieht, so schnell wie möglich einen Sündenbock als Täter zu präsentieren, um beim Shōgun Eindruck zu schinden, statt Euch die Mühe zu machen, den wahren Mörder zu suchen.«
Hoshina starrte Sano an, die Augen dunkel vor Zorn, denn der sōsakan-sama hatte seine Berufsehre angezweifelt und ihn persönlich beleidigt. Angespannte Stille breitete sich aus, und im Zimmer schien es kälter zu werden. Sano wartete. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, denn er hatte alles zu verlieren, wohingegen Hoshina unter dem Schutz des Kammerherrn Yanagisawa stand, der wahren Macht im Lande.
Schließlich winkte Hoshina den beiden yoriki widerwillig zu. »Bringt die Frau ins Gefängnis«, befahl er, »aber sorgt dafür, dass niemand ihr etwas antut.«
Bevor er mit seinen Untergebenen und der Gefangenen das Gemach verließ, warf er seinem Widersacher einen letzten, hasserfüllten Blick über die Schulter zu, der besagte: Dein Sieg ist nur vorübergehend.
Als Hoshina und dessen Leute mit der jammernden Momoko verschwunden waren, holte Sano tief Luft – nicht aus Erleichterung, sondern aus Verzweiflung darüber, dass seine Ermittlungen immer wieder durch Streitereien, Eifersüchteleien und unerwartete Schwierigkeiten behindert wurden. Schon in seinem letzten Fall, als er die verbrecherische Sekte der Schwarzen Lotosblüte zerschlagen hatte, waren Sano die Probleme schier unüberwindlich erschienen. Nie zuvor hatte er so viel Gewalt und sinnloses Blutvergießen gesehen wie beim Kampf gegen die blindwütigen, fanatischen Anhänger der Sekte. Die bloße Erinnerung daran ließ Übelkeit in ihm aufsteigen, als hätte die spirituelle Krankheit, die diese Sekte verbreitet hatte, auch ihn befallen. Sogar sein Privatleben hatte damals gelitten, denn die Ermittlungen hatten ihn und Reiko entzweit und ihr Verhältnis getrübt. In letzter Zeit bereiteten Sano die Gedanken an seine Frau mehr Sorgen als Trost.
Nun aber musste er alle diese Gedanken verscheuchen und rasch und entschlossen handeln, bevor die Ermittlungen ihm völlig aus den Händen glitten. Er beschloss, sich als Erstes die Namen von Wisteries Kunden sowie jener Gäste zu beschaffen, die am Abend des Mordes an der Feier im Gesellschaftszimmer des Owariya teilgenommen hatten. Und er musste nach anderen Tatverdächtigen suchen, um Momoko so schnell wie möglich aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu bringen.
Als Sano sich auf den Weg machte, kämpfte er gegen die Furcht an, bereits die Kontrolle über die Ermittlungen verloren zu haben, bevor sie richtig begonnen hatten.
3.
D
ie Nachricht von der Ermordung Fürst Mitsuyoshis war inzwischen auch ins Innere Schloss gelangt – die Frauengemächer im Palast zu Edo –, wo Fürstin Keisho-in, die Mutter des Shōgun, ein nachmittägliches Fest gegeben hatte, an dem ihre Hofdamen, Freundinnen sowie einige der Konkubinen des Herrschers teilgenommen hatten. Die Frauen hatten geplaudert und gelacht, gegessen und getrunken, begleitet von den Klängen einer Flöte und einer Samisen, als plötzlich die Nachricht vom Mord eingetroffen war. Sofort war Keisho-in aus dem Saal und zum Shōgun geeilt, um ihm Trost zu spenden, und Stille hatte sich ausgebreitet. Nun lagen die Instrumente der Musikanten vergessen inmitten von Servierbrettern voller erlesener Speisen und Getränke, und die Frauen standen in dem hellen, überhitzten Saal in kleinen Gruppen tuschelnd zusammen. Dienerinnen eilten aus dem Saal, kehrten zurück und erzählten von neuen Gerüchten, die neuerliches aufgeregtes Geflüster hervorriefen:
»Der Shōgun ist so verzweifelt wegen der Ermordung seines Vetters, dass er unablässig tobt und flucht!«
»Er hat geschworen, den
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