Der Verrat
nicht?«, fragte Midori. »Könnte diese Freundschaft ihm oder Euch denn schaden?«
Reiko seufzte. »Ich weiß es nicht. Es könnte sein, dass die Fehde zwischen Sano und Yanagisawa wieder ausbricht. Vielleicht ist die Fürstin nur deshalb hergekommen, um für ihren Gemahl die Lage auszuspionieren. Vielleicht sollte sie versuchen, sich mit mir anzufreunden, um mich besser im Auge behalten zu können … als Spitzel ihres Gemahls, der eine neue Verschwörung gegen Sano plant.«
»Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass die Fürstin Euch etwas Böses will«, sagte Midori. »Im Gegenteil, Ihr wart die Einzige, mit der sie sich so lange unterhalten hat. Sie hat sogar ihre Tochter mit Masahiro spielen lassen.«
»Ich weiß, aber trotzdem …«, murmelte Reiko nachdenklich und musste an ihre Fehler in jüngster Zeit denken: Sanos letzter Fall, die Ermittlungen gegen die Schwarze Lotosblüte, hatte Reiko deutlich gemacht, wie gefährlich es war, den eigenen Augen und Ohren und der eigenen Intuition blind zu vertrauen. Seit dieser bitteren Erfahrung war sie argwöhnisch geworden, glaubte, Bedrohungen zu sehen, wo es keine gab, und fürchtete sogar bei Menschen, die ihr Gutes wollten, böse Absichten.
Reiko kam ein beängstigender Gedanke, der sie bereits seit Monaten plagte: Wie sollte sie jemals wieder als Ermittlerin arbeiten, wenn sie nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Einbildung unterscheiden konnte …?
Der Saal um sie herum erschien ihr plötzlich viel zu klein und stickig und zu voll mit Frauen, die sich mit Belanglosigkeiten beschäftigten. War diese beengte und bedeutungslose Welt in Zukunft auch ihre Heimat? Reikos Furcht schlug in Panik um; unwillkürlich drückte sie Masahiro so fest an sich, dass er zu jammern anfing. Die Sehnsucht nach Abenteuern lag Reiko im Blut; nicht einmal die Schrecken im Tempel der Schwarzen Lotosblüte hatten etwas daran ändern können. Lieber würde sie dem Tod erneut ins Gesicht blicken, als ein so ereignisloses Leben zu führen wie die meisten Frauen im Palast.
Dennoch plagten sie widerstreitende Gefühle. Auf der einen Seite sehnte sie sich danach, wieder gemeinsam mit Sano zu ermitteln; sie konnte es kaum ertragen, untätig zu sein, während die Nachforschungen in dem neuen, schwierigen Fall ins Stocken gerieten, sodass ihrer beider Leben in Gefahr geriet. Außerdem besaß Reiko Fähigkeiten, die ihr und Sano weiterhelfen konnten; das hatte sie in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen. Sie wünschte sich Abenteuer statt Müßiggang, Handeln statt Untätigkeit. Und mehr als nach allem anderen sehnte sie sich danach, dass in ihrem Innern das alte Feuer der Leidenschaft wieder aufloderte.
Auf der anderen Seite jedoch plagte Reiko die schreckliche Angst, weitere Fehler zu begehen und ihre Ehe endgültig zu zerstören – ein Gedanke, der einen finsteren Abgrund in ihrem Innern entstehen ließ.
Doch der Geist der Samurai, der auch Reiko beseelte, erlaubte es ihr nicht, sich ihren Ängsten zu ergeben oder eine Niederlage kampflos hinzunehmen.
»Ich werde Sano fragen, ob ich wieder mit ihm zusammenarbeiten kann!«, sagte sie entschlossen.
»Oh, Reiko- san , ich würde mich riesig für Euch freuen, wenn er einverstanden ist! Ich weiß, wie sehr Ihr die Arbeit mit Sano -san vermisst«. Seufzend betrachtete Midori ihren Daumennagel, den sie so sehr abgekaut hatte, dass er blutete. »Ich hoffe nur, dass morgen beim miai alles gut geht. Denn ich wünsche mir so sehr, Hirata bald heiraten zu können!«
»So sehr, wie ich mir wünsche, bei den Ermittlungen im Mord an Mitsuyoshi dabei zu sein«, murmelte Reiko.
4.
D
ie Suche nach Kurtisane Wisterie hatte Hirata in einen Teil Yoshiwaras geführt, den nur wenige Besucher des Vergnügungsviertels je zu Gesicht bekamen. Begleitet vom Besitzer des Großen Miura – weil dieser Mann Wisterie am ehesten erkennen würde – durchsuchte Hirata jedes Teehaus, jeden Laden, jedes Bordell.
Er sah vornehme tayu in prunkvollen Gemächern; er sah Frauen aus der Unterschicht, die in schmutzigen Behausungen zu Dutzenden zusammengepfercht waren; er sah Badezuber voll schaumigem Wasser, in denen sich Nackte drängten; er sah kleine Mädchen, die in Küchen schufteten; er sah Kurtisanen, die in Speisekammern heimlich und voller Gier Lebensmittel hinunterschlangen, weil es ihnen nicht gestattet war, im Beisein ihrer Kunden zu essen. Die meisten Frauen sahen erbarmungswürdig aus, und auf ihren Gesichtern spiegelten sich hilfloser Zorn oder
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