Der Verrat
hörte voller Entsetzen, dass Fürst Niu den Vater Hiratas schwer beleidigt hatte und dass es sogar zu einer Schlägerei zwischen den Männern gekommen war. »Jetzt sind sie Feinde«, jammerte Midori, »und sie werden mir niemals erlauben, Hirata- san zu heiraten.«
Zwar befürchtete Reiko, dass Midori Recht hatte; dennoch sagte sie: »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Ich werde Sano bitten, mit beiden Familien zu reden. Vielleicht kann er dafür sorgen, dass sie Frieden schließen.«
»Danke! Oh, ich danke Euch!«, rief Midori, und ein zögerliches Lächeln legte sich auf ihr verweintes Gesicht. Mit dem Ärmel wischte sie sich die Nase ab und umarmte Reiko. Dann aber strömten wieder Tränen, als sie fortfuhr: »Ich habe den Nachmittag auf dem Anwesen meines Vaters verbracht. Immerzu hat er auf Hirata -sans Familie geschimpft und behauptet, dass sie ihn vernichten wolle und dass er sich wehren müsse. Dann hat er sich in seinem Gemach eingeschlossen. Ich hatte keine Gelegenheit, ihn zu bitten, sich bei Hiratas Vater zu entschuldigen und noch einmal über alles nachzudenken.« Midori wischte sich die tränennassen Wangen ab. »Und Hirata- san habe ich nicht mehr gesehen, seit er das Theater verlassen hat. Niemand weiß, wo er ist. Warum kommt er nicht zu mir? Ich habe schreckliche Angst, dass er mich nicht mehr liebt!«
»Natürlich liebt er dich«, sagte Reiko tröstend. »Hirata -san ist treu. Und es war ja nicht deine Schuld, wie dein Vater sich aufgeführt hat. Bestimmt ist Hirata wieder an der Arbeit, denn der Fall ist sehr schwierig und eilig. Und jetzt sei nicht mehr traurig. Du willst doch nicht, dass Hirata dich so sieht, wenn er kommt.«
Midori biss sich auf die bebende Unterlippe und holte tief Luft. »Bitte verzeiht, dass ich Euch mit meinen Sorgen belästige, kaum dass Ihr nach Hause gekommen seid. Habt Ihr Nachforschungen über die Ermordung Fürst Mitsuyoshis angestellt?«
Reiko nickte und spürte, wie sich auch in ihrem Innern Verzweiflung ausbreitete.
»Und habt Ihr Hinweise bekommen?«
»Ich wollte, es wäre so.« Reiko seufzte. »Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, meine Kusinen, Tanten und Freundinnen zu besuchen. Ich habe mit Dienern, Ladenbesitzern und Verkäufern gesprochen. Doch alle haben Angst, Schlechtes über den toten Erben des Shōgun zu sagen. Niemand will über ihn reden. Und was Kurtisane Wisterie angeht, haben mir alle nur von ihren schönen Kleidern und den prächtigen Feiern erzählt, die sie in Yoshiwara gibt. Und alle haben irgendeine großartige Erklärung, wie sie von dort verschwunden sein könnte: dass sie sich in einen Vogel verwandelt hat und davongeflogen ist oder dass sie einen Zaubertrank genommen hat, der sie schrumpfen ließ, sodass sie unter dem Tor hindurchschlüpfen konnte. Aber niemand weiß, wohin sie verschwunden sein könnte.«
»Das tut mir Leid, Reiko- san «, sagte Midori.
Reiko fürchtete sich jetzt schon davor, Sano von ihren vergeblichen Bemühungen berichten zu müssen. Ihr war kalt, und sie war müde und hungrig, und nun kam auch noch die Furcht hinzu, was dieser Fehlschlag für sie und Sano bedeuten konnte. »Komm, Midori, lass uns ins Haus gehen, wo es warm und behaglich ist«, sagte sie. »Wir könnten etwas essen und trinken, während du auf Hirata wartest.«
Midori schien nicht abgeneigt zu sein, schüttelte dann aber bedauernd den Kopf. »Ich mache mich lieber auf den Weg. Fürstin Keisho-in wird sich bestimmt schon fragen, wo ich bleibe.«
Die beiden Frauen verabschiedeten sich voneinander, und Reiko ging ins Haus. Ihr kleiner Sohn Masahiro kam ihr mit tapsigen Schritten entgegen, zog sie am Ärmel und rief: »Mama! Mit mir kommen! Schauen!«
Die junge O-hana, eines der Kindermädchen, folgte Masahiro auf dem Fuße. »Der junge Herr war den ganzen Tag sehr fleißig«, sagte O-hana. Sie war erst neunzehn und sehr hübsch, mit klugen, wachen Augen und kessem Lächeln. Wenngleich sie den traditionellen dunkelblauen Kimono einer Dienerin trug, verlieh sie ihrem Äußeren stets eine kleine persönliche Note. Heute war es ein Papierschmetterling, den sie sich ins hochgekämmte Haar gesteckt hatte.
»Dann lass uns mal sehen, was du heute so gemacht hast, Masahiro-chan«, sagte Reiko.
Sie, O-hana und Masahiro gingen ins Kinderzimmer. Auf dem Boden stand ein Gebilde aus Holzbausteinen, das entfernt an ein Haus erinnerte.
»Oh, das ist ja wunderschön!«, rief Reiko, deren Freude über ihren Sohn die Enttäuschungen des Tages ein
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