Der Verrat
wenig milderte.
»Jetzt ist der junge Herr ein Fürst und Bewohner eines eigenen Schlosses«, sagte O-hana lachend.
Masahiro hüpfte kichernd auf der Stelle. Als Reiko ihn liebevoll beobachtete, wünschte sie sich, an diesem Tag auch etwas erreicht zu haben, auf das sie stolz sein konnte. Doch ihr Neubeginn als Ermittlerin war gründlich misslungen.
Die Stimme der Haushälterin, die ins Kinderzimmer kam, riss Reiko aus ihren Gedanken. »Verzeiht, Herrin«, sagte sie, »Ihr habt Besuch.«
»Wer ist es?«, fragte Reiko erstaunt, denn sie erwartete keine Gäste.
»Die ehrenwerte Fürstin Yanagisawa und ihre Tochter Kikuko.«
»Gnädige Götter!«
Reiko hatte nicht damit gerechnet, dass die Gemahlin des Kammerherrn ihr so rasch einen Besuch abstatten würde. Solch bedeutende Gäste hatte sie noch nie empfangen! Hastig strich sie sich ihr Haar und den Kimono glatt, als sie zur Empfangshalle eilte, wo Fürstin Yanagisawa und Kikuko nebeneinander knieten.
Reiko begrüßte die beiden höflich, kniete sich ihnen gegenüber und verneigte sich.
Fürstin Yanagisawa erwiderte die Begrüßung auf die gleiche Weise. Sie trug einen schlichten braunen Kimono, und ihr ernstes Gesicht war so ausdruckslos, wie Reiko es schon bei der Feier im Palast gesehen hatte. »Ich bitte um Vergebung, dass ich unangemeldet komme«, sagte sie leise. »Ich hoffe, ich bereite Euch keine Ungelegenheiten …«
»Aber nein, ganz und gar nicht«, entgegnete Reiko nervös. »Ich freue mich sehr, dass Ihr gekommen seid … auch über deinen Besuch, Kikuko-chan. Wie hübsch du aussiehst!«
Das kleine Mädchen kicherte und bedeckte ihr Gesicht mit einem Ärmel ihres leuchtend blauen Kimonos.
»Sag: ›Ihr seid sehr freundlich, ehrenwerte Dame – ich habe Euer Lob nicht verdient‹«, forderte die Fürstin ihre Tochter mit sanfter Stimme auf.
Kikuko gehorchte und wiederholte langsam und stockend die Worte ihrer Mutter. Als Reiko Erfrischungen bringen ließ, schlürfte Kikuko lautstark ihren Tee und hielt die Schale so ungeschickt, dass sie ihren Kimono bespritzte. Dann schlang sie den süßen Kuchen so gierig hinunter, dass ihr Mund und der Fußboden voller klebriger Krümel waren. Fürstin Yanagisawa wischte dem Mädchen mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab, nahm die Krümel auf und bat Reiko mit einem verlegenen Blick um Verzeihung.
»Ich hoffe, der Weg hierher war nicht zu beschwerlich«, sagte Reiko in dem Versuch, die peinliche Stille zu beenden und ein Gespräch in Gang zu bringen, denn die Fürstin war so zurückhaltend und unergründlich schweigsam wie bei ihrer ersten Begegnung im Inneren Palast.
»Nein«, antwortete Fürstin Yanagisawa und hielt die Teeschale mit beiden Händen, während sie den Blick durch die Empfangshalle schweifen ließ; sie betrachtete die Wandgemälde, den Alkoven, den eine bemalte Vase mit getrockneten Blumen zierte, und die Regale, auf denen Figurinen standen. Dann richtete sie den Blick für einen Moment auf Reiko, schlug die Augen nieder und hüllte sich wieder in Schweigen.
Reiko versuchte erneut, die offenbar schüchterne Frau zum Reden zu bewegen. »Dieser Winter ist sehr lang, findet Ihr nicht auch? Womit verbringt Ihr die langen Abende?«
»Ich lese Gedichte. Ich nähe Kleidung für Kikuko. Und wir spielen miteinander«, erwiderte die Fürstin, die lange pausen zwischen den einzelnen Sätzen machte. »Und ich versuche, ihr ein wenig Lesen und Schreiben beizubringen. Manchmal besuchen wir einen Tempel.«
Reiko nickte bloß und nahm einen Schluck Tee. Offenbar führte Fürstin Yanagisawa ein einsames und abgeschirmtes Leben – vielleicht weil sie Kikuko so selten wie möglich mit Menschen zusammenbringen wollte, die sich womöglich über sie lustig machten.
Wieder warf die Fürstin Reiko einen kurzen Blick zu, schaute zur Seite und sah Reiko dann wieder an, betrachtete ihr Haar, ihr Gesicht, ihre Figur. Wenngleich Reiko keinen Argwohn, keine Boshaftigkeit und keine sexuellen Regungen in den schmalen Augen der Fürstin entdecken konnte, fühlte sie sich unbehaglich.
»Interessiert Euer Gemahl sich ebenfalls für Gedichte?«, fragte sie.
»Mein Gemahl hat sehr viel zu tun.«
Die knappe Antwort ließ Reiko erkennen, dass der Kammerherr seiner Frau nur wenig Aufmerksamkeit schenkte, doch Fürstin Yanagisawa war nicht anzumerken, ob sie darunter litt oder nicht. Stattdessen ruhte ihr Blick unablässig auf Reiko, die fieberhaft nach Worten suchte, um das wieder einmal stockende Gespräch
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