Der Verrat
von der Stunde des Hundes an, als die Speisen und Getränke serviert wurden, bis spät nach Mitternacht, als wir erfuhren, dass Fürst Mitsuyoshi tot aufgefunden worden war.«
»Habt Ihr das Gesellschaftszimmer während dieser Zeit verlassen?«
»Nein.«
Wenngleich es Fujio ein sicheres Alibi verschaffte, dass er die ganze Zeit vor den Teilnehmern der Feier aufgetreten war, spürte Sano erneut, dass der hokan ihm etwas verschwieg. »Seid Ihr ganz sicher, dass Ihr das Zimmer nicht eine Sekunde verlassen habt?«
Ein seltsamer Ausdruck erschien in Fujios Augen, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, das ihn beunruhigte, zugleich aber erleichtert aufatmen ließ. »Einmal bin ich hinausgegangen, zum Toilettenhäuschen hinter dem Haus. Ihr könnt es mir glauben – Schatzminister Nitta hat mich gesehen. Er stand in der Gasse vor der Hintertür des ageya .«
Sano riss erstaunt die Augen auf. Doch bevor er eine Frage stellen konnte, fuhr Fujio fort: »Nitta hat Euch auf meine Fährte gesetzt, nicht wahr? Er war derjenige, der Euch von dem alten Klatsch und Tratsch erzählt hat, um mich in Schwierigkeiten zu bringen. Ah, das hätte ich mir gleich denken können! Aber ich wette, er hat Euch nichts davon gesagt, dass er mich in der Mordnacht in der Gasse hinter dem Owariya gesehen hat. In diesem Fall hätte er ja zugeben müssen, ebenfalls dort gewesen zu sein. Als ich ihn sah, hatte er wahrscheinlich gerade erst Fürst Mitsuyoshi getötet!«
Fujio lächelte triumphierend, doch Sano blieb skeptisch. Vielleicht war es ja genau umgekehrt. Vielleicht war Fujio der Mörder und versuchte nun, Nitta zu belasten – auf die gleiche Art und Weise, wie Nitta ihn zu belasten versucht hatte. »Und welches Motiv sollte der Schatzminister haben, den Erben des Shōgun zu ermorden? Und warum sollte er versuchen, gerade Euch als Täter hinzustellen?«, fragte Sano. »Weil er Wisterie liebt und eifersüchtig auf Euch und Mitsuyoshi gewesen ist, weil ihr beide die Frau gehabt habt?«
»Nein, nein.« Der hokan schüttelte den Kopf. »Nitta gefällt es zwar, der einzige Liebhaber seiner Kurtisanen zu sein, aber hier geht es nicht um Liebe, sondern um Geld.« Er ließ die Münzen in dem Lederbeutel klingeln, den er am Gürtel trug. »Was meint Ihr denn, wie Nitta an die Unsummen herankommt, die er in Yoshiwara ausgibt? Während unserer letzten gemeinsamen Nacht hat Wisterie es mir erzählt. Nitta stiehlt Gold aus dem Staatsschatz!«
»Woher wollte Wisterie das wissen?«, fragte Sano, schockiert über die Anschuldigung, der Schatzminister habe Gelder des bakufu unterschlagen, was einem Hochverrat gleichkam.
Fujio zuckte die Achseln. »Wisterie hat es nicht ausdrücklich gesagt. Ich glaube, sie hat Nitta erpresst – worauf er sie umbrachte, damit sein Verbrechen nicht ans Tageslicht kam.«
Erpressung war ein neues – und stichhaltiges – Motiv für den Mord. Sano erkannte, dass er an dahingehenden Nachforschungen nicht vorbeikam. Doch der Gedanke, Nitta wegen des Vorwurfs der Unterschlagung zur Rede stellen zu müssen, erschreckte ihn ebenso sehr wie der Aufruhr im bakufu , den eine Ermittlung über Angelegenheiten des Schatzamtes hervorrufen würde. Dennoch – Fujios Theorie bot eine mögliche Erklärung für das spurlose Verschwinden Wisteries und ihres Tagebuchs.
»Außerdem glaube ich, dass Wisterie die Unterschlagungen Nittas in ihrem Tagebuch erwähnt hat, das sie stets bei sich trug«, fuhr Fujio fort. »Wahrscheinlich hat Nitta das Tagebuch vernichtet, damit sein Verbrechen nach Wisteries Tod nicht ans Tageslicht kommt.«
Sano erkannte, dass er das Tagebuch dringend finden musste; es konnte der Schlüssel zur Lösung des Falles sein. »Eine interessante Geschichte«, sagte er, »aber wie passt Fürst Mitsuyoshi ins Bild?«
»Er war mit Wisterie im Schlafgemach im ersten Stock des ageya und zu dieser Stunde wohl schon betrunken. Wahrscheinlich glaubte Nitta, Mitsuyoshi würde schlafen, als er ins Zimmer schlich und Wisterie ermordete. Dann aber erkannte er, dass Mitsuyoshi wach war und alles beobachtet hatte. Wisterie stammte aus einer Bauernfamilie, sodass Nitta wahrscheinlich straffrei davongekommen wäre, hätte man den Mord entdeckt, doch er hatte Angst, der bakufu könne im Zuge der Ermittlungen von seinen Unterschlagungen erfahren. Deshalb tötete er Mitsuyoshi, um auch den zweiten Zeugen loszuwerden.« Fujio nickte, überzeugt von seiner Theorie.
»Und was meint Ihr, wie er Wisteries Leiche beseitigt hat?«,
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