Der Verrat
Fäusten. Offensichtlich wusste Gorobei von der Feindschaft zwischen Sano und Hoshina. Falls Hirata nicht einlenkte, würde Hoshina jeden Preis zahlen, sofern er an Informationen gelangte, die ihm halfen, den Fall eher zu lösen als Sano, und das durfte nicht geschehen.
»Also gut«, willigte Hirata mürrisch ein.
Sie begaben sich in eine Gasse hinter einem Kochhaus, wo Männer mit dampfenden Töpfen und Pfannen hantierten und das Essen für die Bordelle zubereiteten. Der Rauch, der durch die Gasse zog, roch nach Knoblauch und gebratenem Fisch.
Hirata und Gorobei feilschten um den Preis für den Fund. Als sie sich einig waren, bestand der Schuldeneintreiber auf Barzahlung im Voraus. Widerwillig erklärte Hirata sich einverstanden, und Münzen wechselten den Besitzer.
»Ich hoffe für dich, du drehst mir keinen Tand an«, sagte Hirata drohend.
Gorobei wühlte in der Innentasche seines Umhangs, brachte ein Bündel Papier zum Vorschein und reichte es Hirata.
Im schummrigen Licht, das aus den Türen des Kochhauses fiel, nahm Hirata die Papiere genauer in Augenschein. Es waren kleine Seiten dünnes weißes Reispapier, mit schwarzen Schriftzeichen bedeckt und in der Mitte quer gefaltet. Als Hirata ein Blatt nach dem anderen auseinander faltete, sah er, dass die Ränder leicht geriffelt waren, als wären die Seiten aus einem Einband gerissen worden. Auf dem obersten Blatt waren ölige Flecken zu sehen.
»Ein Bettler, den ich kenne, hat die Seiten am Morgen nach dem Mord an Fürst Mitsuyoshi gefunden«, sagte Gorobei, »als er die Mülltonnen hinter dem ageya Owariya nach Lebensmittelresten durchwühlt hat.«
Hirata las den Anfang der Eintragung auf der zuoberst liegenden Seite:
Das Leben in Yoshiwara kann schrecklich eintönig sein. Sogar ich, Wisterie, der Liebling des Vergnügungsviertels, sehe immerzu dieselben Leute und tue dieselben Dinge. Gestern Abend jedoch ist etwas Interessantes geschehen.
Mit einem Mal zitterten Hiratas Hände vor Aufregung.
Die Blätter stammten aus dem vermissten Tagebuch von Kurtisane Wisterie.
12.
D as Tagebuch der Kurtisane Wisterie:
Das Leben in Yoshiwara kann schrecklich eintönig sein. Sogar ich, Wisterie, der Liebling des Vergnügungsviertels, sehe immerzu dieselben Leute und tue dieselben Dinge. Gestern Abend jedoch ist etwas Interessantes geschehen.
Ich war auf einer Feier und habe mit den Gästen Karten gespielt, doch ich war müde und wäre am liebsten ins Bett gegangen. Plötzlich bemerkte ich, dass jemand mich beobachtete. Ich hob den Blick und sah einen Mann im Türeingang stehen. Der Mann war so schön, dass mein Herz schneller schlug. Ich starrte ihn an, und er erwiderte meinen Blick, wobei ein feines Lächeln auf seinen Lippen erschien. Rasch wandte ich mich ab, denn ich schämte mich, dass der Fremde gesehen hatte, welche Gefühle mich bewegten. Doch ich weiß, wann ein Mann mich begehrt, und dieser Fremde wollte mich. Während ich die Karten austeilte, wartete ich, dass der schöne Unbekannte zu mir kam, doch nichts geschah.
Mit Flüsterstimme fragte ich eine der anderen Kurtisanen: »Wer ist der Mann im Türeingang?«
»Welcher Mann?«, erwiderte sie.
Als ich noch einmal den Blick hob und zur Tür schaute, war der Fremde verschwunden.
Seit jenem Abend habe ich den Mann oft gesehen.
Vor drei Tagen stand er auf einem Balkon und sah zu, wie ich zum ageya geleitet wurde. Vorgestern war er wieder kurz hier und schaute bei einer Feier vorbei, bei der ich die Gäste unterhielt. Und gestern, als ich mich ankleidete und dabei aus dem Fenster schaute, sah ich ihn an der Straße vor dem Haus auf und ab gehen. Doch jedes Mal verschwindet er, sobald er bemerkt, dass ich ihn gesehen habe! Und nie redet er mit mir. Ich habe jeden gefragt, den ich kenne, doch niemand scheint zu wissen, wer der Fremde ist. Was hat sein seltsames Verhalten zu bedeuten? Ich fürchte mich vor ihm, aber noch viel mehr möchte ich ihn kennen lernen. Ausgerechnet ich, die ich so viele Männer kenne und mir nie groß Gedanken um einen von ihnen gemacht habe!
Heute war ich mit meiner yarite auf dem Markt einkaufen, als ich plötzlich spürte, dass der Mann in der Nähe war. Statt Ausschau nach ihm zu halten, habe ich die Flucht ergriffen und bin zwischen den Marktständen davongelaufen. Ich konnte hören, dass er mir folgte, aber ich habe nicht über die Schulter geschaut. Dann aber lief ich in eine Gasse, die an der Mauer endete. Dort blieb ich stehen und drehte mich um. Und
Weitere Kostenlose Bücher