Der Verrat
Reiko schlimmer wehtat, als es der Fall gewesen wäre, hätte er ihr von Anfang an die Wahrheit gesagt.
»Zu schade, dass die Seiten aus dem Einband gerissen wurden«, sagte er schließlich. »Am Einband hätten die Leute, die Wisteries Tagebuch schon einmal gesehen haben, leichter erkennen können, ob die Seiten echt sind oder nicht.«
Reikos fragende Miene ließ erkennen, dass sie wusste, dass Sanos Antwort eine Ausflucht gewesen war und dass sie sich nun nach dem Grund dafür fragte. Doch sie schwieg. Sano bemerkte, dass auch Hirata ihn beobachtete, der von Sanos Verhältnis mit Wisterie wusste – er hatte ihm ja auf dem Heimritt nach ihrem ersten Besuch in Yoshiwara davon erzählt. Doch Hirata sagte nichts, und Sano war ihm dankbar dafür.
»Ich habe nach dem Einband gesucht«, sagte Hirata nun, »aber die Gasse war schon gefegt, die Mülleimer geleert und der Abfall verbrannt. Falls der Einband irgendwo in der Gasse gewesen ist, dann ist er jetzt für immer verloren.«
»Das führt uns zu der Frage, weshalb diese Blätter überhaupt im Müll gewesen sind«, sagte Sano.
»Vielleicht hat Wisterie selbst sie weggeworfen«, meinte Hirata. »Vielleicht hat sie sich gesagt, dass sie das Tagebuch nicht mehr weiterzuführen braucht, weil sie ein neues Leben anfangen wollte. Und sie wollte nicht, dass jemand von ihren geheimen Wünschen und Gedanken erfuhr. Deshalb riss sie die Seiten aus dem Tagebuch und warf sie in einen Mülleimer, bevor sie und ihr Liebhaber das Owariya verließen.«
»Aber sie war eine flüchtige Kurtisane«, sagte Reiko. »Sie musste wissen, dass ihr Herr nach ihr suchen lässt.« Die Bordellbesitzer beauftragten Detektive, flüchtige Kurtisanen zu verfolgen und aufzuspüren; wurden die Frauen gefasst, mussten sie die Kosten für die Jagd selbst tragen, was in den meisten Fällen zusätzliche Jahre als Prostituierte in Yoshiwara bedeutete. »Aber weshalb sollte Wisterie Spuren hinterlassen, wenn sie aus Yoshiwara fliehen wollte? Warum hat sie das Tagebuch nicht verbrannt? Oder mitgenommen?«
»Vielleicht war sie zu aufgeregt«, sagte Hirata, »oder musste schnell handeln.«
»Oder es ist bloß eine Täuschung, um ihre Pläne und die ihres Liebhabers falsch darzustellen«, meinte Reiko. »Vielleicht hat Wisterie die Seiten deshalb zurückgelassen, um alle, die nach ihr suchen würden, in die Irre zu führen.«
»Oder sie hat nicht damit gerechnet«, sagte Hirata, »dass jemand sich die Mühe macht, nach ihrem Tagebuch zu suchen, weil sie niemandem viel bedeutet.«
»Mag sein, dass Wisterie niemandem viel bedeutet hätte , aber nach ihrer Flucht lag Fürst Mitsuyoshi ermordet in ihrem Gemach«, sagte Sano und verfolgte einen beunruhigenden Gedankengang. »Was ist, wenn sie gar nicht wusste, dass Mitsuyoshi tot war? Das würde erklären, weshalb sie die Seiten ihres Tagebuchs so sorglos fortgeworfen hat – falls sie es getan hat. Vielleicht hatte sie Yoshiwara bereits verlassen, als Mitsuyoshi erstochen wurde. In ihrem Tagebuch ist jedenfalls nicht der kleinste Hinweis darauf zu entdecken, dass sie den Mord beobachtet hat.«
Reikos und Hiratas nachdenkliches Schweigen ließ erkennen, dass beide Sano Recht gaben.
»In diesem Fall«, sagte Sano, »würden die Seiten uns nichts nützen, ob sie echt sind oder nicht, denn Wisterie könnte uns nicht sagen, wer der Mörder ist, selbst wenn wir sie finden.«
Im Haus war es so still, dass sie das Knacken und Knistern der Holzkohle hörten, die im Ofen zu Asche verbrannte. Die Flammen der Laterne flackerten, als das Öl zur Neige ging.
»Trotzdem glaube ich«, sagte Sano, der die Hoffnung auf einen Erfolg am Leben erhalten musste, »dass Wisterie irgendwie mit dem Mord zu tun hat und etwas weiß, das von entscheidender Bedeutung für unsere Ermittlungen ist. Außerdem könnten die Ortsangaben im Tagebuch Hinweise auf ihren Aufenthaltsort sein. Deshalb werden wir die Seiten bis zum Beweis des Gegenteils als echt betrachten.« Er blickte Hirata an. »Du wirst morgen die Teehäuser in Suruga und die Nudelküchen in Fukagawa überprüfen. Außerdem wirst du an die Vorsteher sämtlicher Wohnviertel der Stadt die Aufforderung ergehen lassen, sich umgehend zu melden, wenn in ihrem Viertel ein Mann aus Hokkaido gesehen wird. Ich werde Suchtrupps auf der Fernstraße nach Norden patrouillieren lassen. Sie sollen nach einem jungen Paar Ausschau halten, das nach Norden unterwegs ist, denn es könnte sein, dass Wisterie und der Mann Edo bereits verlassen
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