Der Verrat
einem toten Punkt angelangt waren. Sano hatte den Besitzer und die Bediensteten des ageya Owariya vernommen; sie hatten Fujios Aussage bestätigt und erklärt, er habe die Feier tatsächlich nur für wenige Augenblicke verlassen – nicht lange genug, als dass die Zeit gereicht hätte, um die Treppe hinaufzusteigen, Fürst Mitsuyoshi zu töten und Wisterie zu entführen. Ermittler Fukida hatte inzwischen Zeugen gefunden, die Schatzminister Nitta auf den Straßen Yoshiwaras gesehen hatten; bisher aber war der Unterhaltungskünstler Fujio der Einzige, der Nitta in der Nähe des ageya Owariya erblickt haben wollte. Ermittler Marume schließlich hatte herausgefunden, dass Nitta der Gönner mehrerer Kurtisanen gewesen war, nicht nur Wisteries. Sano hatte Fujios Haus in Imado durchsucht, aber nichts Verdächtiges entdecken können. Widerstrebend hatten er und Hirata sich zu der Entscheidung durchgerungen, dass sie es nicht wagen durften, jene Spuren weiterzuverfolgen, die zu den Feinden Mitsuyoshis führten; die Gefahr, den Shōgun zu verärgern, war zu groß. Da auch Reikos Ermittlungen keine neuen Hinweise erbracht hatten, war die Entdeckung von Wisteries Tagebuch mehr als willkommen gewesen, denn es bot den vielleicht einzigen Weg aus der Sackgasse, in der Sano und die anderen steckten.
»Dass Wisteries Tagebuch aufgetaucht ist, erscheint mir fast zu schön, um wahr zu sein«, sagte Reiko und sprach damit aus, was auch die anderen dachten. »In der Vergangenheit sind wir schon öfter falschen Hinweisen begegnet.«
»Anfangs dachte auch ich, es könne kein Zufall sein, dass ich Gorobei begegnet bin und dass ausgerechnet er die Tagebuchseiten besitzt«, sagte Hirata. »Aber nachdem ich sie ihm abgekauft hatte, habe ich sie den Leuten in Wisteries Bordell gezeigt. Sie sagten mir, die Seiten ähnelten denen, die sie hin und wieder gesehen hätten, wenn Wisterie etwas in ihr Tagebuch schrieb. Aber sie hat immer sehr darauf geachtet, dass niemand das Buch zu sehen bekam. Außerdem können die meisten Kurtisanen ebenso wenig lesen wie die Dienerschaft. Es gibt also keinen Grund, an der Echtheit der Seiten zu zweifeln.«
Hirata hörte sich an, als wollte er vor allem sich selbst davon überzeugen, denn einen sicheren Beweis, dass die Seiten tatsächlich von Wisterie stammten, gab es nicht. Sano ahnte, weshalb Hirata die Echtheit seines Fundes so wichtig war: Sie hatten zwar noch nicht über den miai gesprochen, doch Hiratas von Sorgen gezeichnetes Gesicht ließ Sano deutlich genug erkennen, dass die Hochzeitsverhandlungen gescheitert waren. Nun war Hirata offenbar bemüht, die verlorene Zeit aufzuholen und seine private Niederlage durch einen beruflichen Erfolg wettzumachen.
Reiko hielt eine der Seiten näher ans Licht der Lampe und betrachtete sie sorgfältig. »Die Sprache ist schlicht, und die Schrift ist ziemlich unbeholfen. Und es sind auffallend viele Fehler durchgestrichen. Einen solchen Text könnte man von einer Frau erwarten, die ein bisschen Lesen und Schreiben gelernt hat, ohne gründlichen Unterricht bekommen zu haben.«
Sano hörte die Unsicherheit in Reikos Stimme. Früher hatte sie ihr Urteil immer schnell und sicher gefällt, doch die Ermittlungen gegen die Sekte der Schwarzen Lotosblüte hatten den eigenen Glauben an ihr Urteilsvermögen erschüttert. Während der Nachforschungen über die Sekte hatte Sano immer wieder Reikos Schlussfolgerungen angezweifelt und sie gedrängt, sich an seiner Meinung zu orientieren – was er nun umso mehr bedauerte, da er eine unvoreingenommene Meinung dringend gebraucht hätte. Gern wäre er sich der Echtheit der Seiten sicher gewesen, zumal er selbst Zweifel hatte.
»Würdest du eine Seite laut vorlesen?«, fragte er Reiko.
Sie kam der Bitte nach. Während sie vorlas, wurde Sano deutlich, dass der Text vermutlich nicht von Wisterie stammte, auch wenn er nicht genau hätte sagen können, weshalb er diesen Eindruck hatte.
Reiko hielt inne. »Was ist?«, fragte sie und blickte Sano neugierig an.
Doch Sano schwieg, um sich nicht in ein immer dichteres Gestrüpp aus Täuschungen und Halbwahrheiten zu verstricken. Er konnte seine Zweifel an der Echtheit des Tagebuchs nicht näher begründen, ohne Reiko gestehen zu müssen, dass er Wisterie gut gekannt hatte. Wenn er das zugab, würde Reiko wissen wollen, weshalb er es ihr nicht schon eher gesagt hatte. Und dann wiederum musste Sano ihr gestehen, dass er und Wisterie ein Verhältnis gehabt hatten – mit der Folge, dass er
Weitere Kostenlose Bücher