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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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kleine Falten in dem gelblichen, zarten und festen Stoff zeigten die Stärke der Spannung. Und doch lag Karl gar nichts an ihr und er hätte gern darauf verzichtet, auf ihre Zim- mer geführt zu werden, wenn er statt dessen die Tür auf deren Klinke er für jeden Fall die Hände gelegt hatte, hätte öffnen, ins Automobil steigen oder wenn der Chauffeur schon schlief, nach Newyork allein hätte spa- zieren dürfen. Die klare Nacht mit dem ihm zugeneigten vollen Mond stand frei für jedermann und draußen im Freien vielleicht Furcht zu haben, schien Karl sinnlos. Er stellte sich vor – und zum erstenmal wurde ihm in diesem Saale wohl – wie er am Morgen – früher dürfe er kaum zufuß nachhause kommen – den Onkel überra- schen wollte. Er war zwar noch niemals in seinem Schlafzimmer gewesen, wußte auch gar nicht, wo es lag, aber er wollte es schon erfragen. Dann wollte er anklop- fen und auf das förmliche „Herein!" ins Zimmer laufen und den lieben Onkel, den er bisher immer nur bis hoch hinauf angezogen und zugeknöpf kannte, aufrecht im Bette sitzend, die Augen erstaunt zur Tür gerichtet, im Nachthemd überraschen. Das war ja an und für sich vielleicht noch nicht viel, aber man mußte nur ausden- ken, was das zur Folge haben konnte! Vielleicht würde er zum erstenmal gemeinsam mit seinem Onkel früh- stücken, der Onkel im Bett, er auf einem Sessel, das Frühstück auf einem Tischchen zwischen ihnen, viel- leicht würde dieses gemeinsame Frühstück zu einer stän- digen Einrichtung werden, vielleicht würden sie in Folge dieser Art Frühstück, was sogar kaum zu vermeiden war, öfers als wie bisher bloß einmal während des Tages zusammenkommen und dann natürlich auch offener mit einander reden können. Es lag ja schließlich nur an dem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heute dem Onkel gegenüber etwas unfolgsam oder besser starr- köpfig gewesen war. Und wenn er auch heute über Nacht hierbleiben mußte – es sah leider ganz darnach aus, trotz- dem man ihn hier beim Fenster stehn und auf eigene Faust sich unterhalten ließ – vielleicht wurde dieser unglückli- che Besuch der Wendepunkt zum Bessern in dem Ver- hältnis zum Onkel, vielleicht hatte der Onkel in seinem Schlafzimmer heute abend ähnliche Gedanken.
       Ein wenig getröstet wendete er sich um. Klara stand vor ihm und sagte: „Gefällt es Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier nicht ein wenig heimisch füh- len? Kommen Sie, ich will den letzten Versuch machen." Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe. An einem Seitentisch saßen die beiden Herren bei leicht schäumen- den, in hohe Gläser gefüllten Getränken, die Karl unbe- kannt waren und die er zu verkosten Lust gehabt hätte. Herr Green hatte einen Elbogen auf dem Tisch und sein ganzes Gesicht Herrn Pollunder möglichst nahe ge- rückt; wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt hätte, hatte man ganz gut annehmen können, es werde hier etwas Verbrecherisches besprochen und kein Geschäf. Während Herr Pollunder mit freundlichem Blick Karl zur Türe folgte, sah sich Green, trotzdem man doch schon unwillkürlich sich den Blicken seines Gegenübers anzuschließen pflegt, auch nicht im geringsten nach Karl um, welchem in diesem Benehmen der Ausdruck einer Art Überzeugung Greens zu liegen schien, jeder, Karl für sich, und Green für sich solle hier mit seinen Fähig- keiten auszukommen versuchen, die notwendige gesell- schaftliche Verbindung zwischen ihnen werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung eines von beiden herstellen. „Wenn er das meint", sagte sich Karl, „dann ist er ein Narr. Ich will wahrhafig nichts von ihm und er soll mich auch in Ruhe lassen." Kaum war er auf den Gang getreten, fiel ihm ein, daß er sich wahrscheinlich unhöflich benommen hatte, denn mit seinen auf Green gehefeten Augen hatte er sich von Klara aus dem Zimmer fast schleppen lassen. Desto wil- liger gieng er jetzt neben ihr her. Auf dem Wege durch die Gänge traute er zuerst seinen Augen nicht, als er alle zwanzig Schritte einen reich livrierten Diener mit einem Armleuchter stehen sah, dessen dicken Schaf jener mit beiden Händen umschlossen hielt. „Die neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt", er- klärte Klara. „Wir haben dieses Haus erst vor kurzem gekauf und es gänzlich umbauen lassen, soweit sich ein altes Haus mit seiner eigensinnigen Bauart überhaupt umbauen läßt." „Da gibt es also auch schon in Amerika

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