Der Verschollene
wahrscheinlich mich durchgeprügelt. Trotzdem, trotzdem – es verlockt mich geradezu riesig Dich zu ohrfeigen so wie Du jetzt daliegst. Ich werde es wahr- scheinlich bedauern, wenn ich es aber tun sollte, so wisse schon jetzt, daß ich es fast gegen meinen Willen tun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer Ohrfeige begnügen, sondern rechts und links schlagen, bis Dir die Backen anschwellen. Und vielleicht bist Du ein Ehrenmann – ich möchte es fast glauben – und wirst mit den Ohrfeigen nicht weiterleben wollen und Dich aus der Welt schaffen. Aber warum bist Du auch so gegen mich gewesen. Gefalle ich Dir vielleicht nicht? Lohnt es sich nicht auf mein Zimmer zu kom- men? Achtung! jetzt hätte ich Dir schon fast unverse- hens die Ohrfeige aufgepelzt. Wenn Du heute also noch so loskommen solltest, benimm Dich nächstens feiner. Ich bin nicht Dein Onkel, mit dem Du trotzen kannst. Im übrigen will ich Dich noch darauf aufmerksam ma- chen, daß wenn ich Dich ungeohrfeigt loslasse Du nicht glauben mußt, daß Deine jetzige Lage und wirkliches Geohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das Gleiche sind, solltest Du das glauben wollen, so würde ich es doch vorziehn, Dich wirklich zu ohrfeigen. Was wohl Mack sagen wird, wenn ich ihm das alles erzähle." Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Karl los, in seinen undeutlichen Gedanken erschien ihm Mack wie ein Be- freier. Er fühlte noch ein Weilchen Klaras Hand an sei- nem Hals, wand sich daher noch ein wenig und lag dann still.
Sie forderte ihn auf aufzustehn, er antwortete nicht und rührte sich nicht. Sie entzündete irgendwo eine Ker- ze, das Zimmer bekam Licht, ein blaues Zickzackmuster erschien auf dem Plafond, aber Karl lag, den Kopf auf Sophapolster aufgestützt, so wie ihn Klara gebettet hat- te, und wendete ihn nicht einen Fingerbreit. Klara gieng im Zimmer herum, ihr Rock rauschte um ihre Beine, wahrscheinlich beim Fenster blieb sie eine lange Weile stehn. „Ausgetrotzt?" hörte man sie dann fragen. Karl empfand es schwer, in diesem Zimmer, das ihm doch von Herrn Pollunder für diese Nacht zugedacht war, keine Ruhe bekommen zu können. Da wanderte dieses Mädchen herum, blieb stehn und redete und er hatte sie doch so unaussprechlich satt. Rasch schlafen und von hier fortgehn war sein einziger Wunsch. Er wollte gar nicht mehr ins Bett, sondern nur hier auf dem Kanapee bleiben. Er lauerte nur darauf daß sie weggienge, um hinter ihr her zur Tür zu springen, sie zu verriegeln und dann wieder zurück auf das Kanapee sich zu werfen. Er hatte ein solches Bedürfnis sich zu strecken und zu gäh- nen, aber vor Klara wollte er das nicht tun. Und so lag er, starrte hinauf, fühlte sein Gesicht immer unbewegli- cher werden und eine ihn umkreisende Fliege flimmerte ihm vor den Augen, ohne daß er recht wußte, was es war.
Klara trat wieder zu ihm, beugte sich in die Richtung seiner Blicke und hatte er sich nicht bezwungen, hätte er sie schon anschauen müssen. „Ich gehe jetzt", sagte sie. „Vielleicht bekommst Du später Lust zu mir zu kom- men. Die Tür zu meinen Zimmern ist die vierte von dieser Tür aus gerechnet, auf dieser Seite des Ganges. Du gehst also an drei weiteren Türen vorüber und die, zu welcher Du dann kommst ist die richtige. Ich gehe nicht mehr hinunter in den Saal, sondern bleibe schon in mei- nem Zimmer. Du hast mich aber auch ordentlich müde gemacht. Ich werde nicht gerade auf Dich warten, aber wenn Du kommen willst so komm. Erinnere Dich, daß Du versprochen hast, mir auf dem Klavier vorzuspielen. Aber vielleicht habe ich Dich ganz entnervt und Du kannst Dich nicht mehr rühren, dann bleib und schlaf Dich aus. Dem Vater sage ich vorläufig von unserer Rau- ferei kein Wort; ich bemerke das für den Fall, daß Dir das Sorge machen sollte." Darauf lief sie trotz ihrer an- geblichen Müdigkeit mit zwei Sprüngen aus dem Zimmer.
Sofort setzte sich Karl aufrecht, dieses Liegen war schon unerträglich geworden. Um ein wenig Bewegung zu machen, gieng er zur Tür und sah auf den Gang hinaus. War dort aber eine Finsternis! Er war froh, als er die Tür zugemacht und abgesperrt hatte, und wieder bei seinem Tisch im Schein der Kerze stand. Sein Entschluß war, nicht länger in diesem Haus zu bleiben, sondern hinunter zu Herrn Pollunder zu gehn, ihm offen zu sa- gen, wie ihn Klara behandelt hatte – am Eingeständnis seiner Niederlage lag ihm gar nichts – und mit dieser wohl genügenden Begründung um die Erlaubnis zu
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