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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Rouzé
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Fortschritt war beträchtlich. Raymond unternahm den zweiten Versuch, und das nun schon feuchte Taschentuch brauchte nur noch die halbe Zeit, um sich vollzusaugen. Die Meerkatzen waren von der Qual des Durstes erlöst. Zwei Stunden lang beschäftigten sie sich damit, reihum gierig dieses wohltätige Naß in sich aufzunehmen, das einen leichten Eisengeschmack hatte. Zwei weitere Stunden verwendeten sie darauf, sich eine kleine Reserve zu schaffen; dann brachen sie wieder auf.
    Verglichen mit dem, was sie heute zu leigten hatten, war der gestrige Weg ein Spaziergang gewesen. Der Durst war vorläufig gestillt, dafür begann sie der Hunger aufs neue zu quälen. Bald fühlten sie sich so schwach, besonders die beiden Kleinen, daß die geringste Anstrengung sie unsäglich erschöpfte. Doch je höher sie sich hinaufarbeiteten, desto näher kamen sie ja der Erdoberfläche. Pierre hatte sogar den Eindruck, daß sie sich schon über dem Meeresspiegel befanden. Es war alles anders, als er errechnet hatte, aber er gab es auf, darüber nachzudenken. Sie würden ins Freie kommen, das war die Hauptsache. Keiner von ihnen wollte überlegen, daß sie ebensogut vor einer Felsspalte landen könnten, durch die zwar der Rauch zu entweichen vermochte, die aber einem menschlichen Wesen jeden Durchgang versperrte.
    Der Rauch war übrigens verschwunden. Aber es war nur natürlich, daß ihr gestern entfachtes Lagerfeuer längst erloschen war.
    Plötzlich sah Suzanne, die in diesem Augenblick den Dynamo bediente, vor sich ein Tier aus dem Dunkel hervorbrechen. Sie streckte die Hand aus, um danach zu greifen, stolperte, und das Licht ging aus. Als sie aufgestanden war und von neuem Licht gab, sah sie ein Kaninchen regungslos am Boden liegen. Ein wenig Blut lief aus seiner Nase. Erschreckt durch den unerwarteten Besuch, der in den Frieden seiner unterirdischen Behausung einbrach, hatte es seinen Sprung falsch bemessen und war gegen eine Felszacke geprallt.

    Kein Wildbret wurde je so prompt abgezogen und ausgeweidet. Mit dem Holz, das sie mitgenommen hatten, entzündeten sie ein Feuer, und bald schaukelte das Kaninchen — auf eine von Raymonds Tornister abmontierte Metallschiene gespießt — über der Flamme. Es konnte nicht die Rede davon sein, bei dem kleinen Feuer den Braten gar zu bekommen. Kaum war den Meerkatzen der Duft in die Nasen gestiegen, als sie auch schon nahezu ohnmächtig davon wurden. Die Wahrheit zu sagen: Das Tier wurde, von außen ein wenig verbrannt, von innen noch halb roh, verschlungen. Es war ein Festmahl wie bei den barbarischen Völkerstämmen …

    „So ein wildes Kaninchen ist nicht besonders fett“, bemerkte Jean melancholisch, als er den letzten Knochen abgenagt hatte.
    Diese Feststellung rief allgemeine Heiterkeit hervor. Es war der erste fröhliche Augenblick seit gestern morgen.
    „Seht mal!“ rief Pierre und zeigte nach oben.
    Der Rauch des Lagerfeuers hob sich schräg zur Decke und zog in die Richtung, in der ihr Weg sie weiterführen mußte. Der Ariadnefaden war aufs neue geknüpft.
    Sie brachen doppelt gestärkt wieder auf. Das Kaninchen hatte nicht nur für eine Weile ihren Hunger gestillt; der Fang ließ außerdem darauf schließen, daß der Ausgang ins Freie nicht mehr weit sein konnte. Wirklich: Noch ein kleines Stück, dann erweiterte sich der Gang zu einem chaotischen Felsengewirr. Es gab auf einmal die Auswahl zwischen mehreren schmalen Pfaden. Der Rauchfaden wußte glücklicherweise, wohin er wollte; er wies ihnen den Weg, der die Rettung versprach.
    Plötzlich war aus der Tiefe hinter ihnen ein dumpfer Laut zu vernehmen. Der Rauchfaden begann zu beben wie eine vibrierende Saite, dann schwebte er rückwärts, als treibe ein Windhauch ihn in die entgegengesetzte Richtung. Zuletzt war er ganz verschwunden. Der Ariadnefaden war gerissen — und das in einem Augenblick, wo sie seiner am nötigsten bedurften.
    Raymond ließ die Arme sinken; das Licht erlosch.
    Sie standen regungslos und versuchten zu begreifen, was geschehen war.
    „Raymond!“ rief Jacques. „Ich sehe da oben etwas Helles!“
    Erst glaubten sie, sich zu täuschen, aber je mehr ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnten, desto deutlicher wurde es: Ein zarter Lichtschimmer war, ganz nahe vor ihnen, zwischen den Felsen wahrzunehmen!
    Sie gingen hoffnungsfroh darauf zu. Aber um den buckligen Hang weiter erklimmen zu können, brauchten sie das elektrische Licht, und schon war der Schimmer, der ihnen den Weg weisen sollte, wieder

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