Der versunkene Wald
zurückfluten, es klang wie grollendes und pfeifendes Gurgeln aus den Lungen eines Unholds. Dann folgte eine Reihe dumpfer Schläge, die jedesmal von einem Plätschern begleitet waren, und endlich wurde es still.
Aus dem Schoße der Erde gerettet, durchweicht und halb besinnungslos, versuchten die Meerkatzen endlich, sich umzusehen. Wo mochten sie sein? Dicker Nebel hüllte sie ein, wie er an der nordfranzösischen Küste oft vorkommt und an Dichte kaum der berühmten ,Erbsensuppe‘ am Themseufer nachsteht. Nur verschwommen durchdrang Licht diese feuchte Watte. An jedem anderen Tage wäre es ihnen bleich und unheimlich erschienen; jetzt, nach zweitägigem Umhertappen in der Finsternis unter der Erde, kam es ihnen unsagbar herrlich vor. Raymond sah nach der Uhr. Sie zeigte halb sieben. Der Morgen war angebrochen. Wenn erst die Sonne sich über den Horizont erhob, würde sie vielleicht den Nebel zerstreuen.
Die Meerkatzen schüttelten sich wie nasse Hunde und rückten vorsichtshalber von dem Erdloch weg. Rings um sie her breitete sich Gebüsch und wucherndes Gras, In zehn Meter Entfernung war nichts mehr zu erkennen.
„Habt ihr eine Ahnung, in welcher Gegend wir sein können?“ fragte Suzanne.
„Nicht die leiseste“, antwortete Raymond. „Wir müssen einfach darauflosgehen, dann werden wir es schon merken. Auf jeden Fall sind wir irgendwo an der Küste, nicht weit vom Mont Saint-Michel.“
„Eben nicht“, sagte Pierre. „Das ist unmöglich. Überlegt doch einmal: Ihr kennt die ganze Gegend so gut wie ich selber. Felsen und Heide gibt es erst wieder bei Pontorson. Könnt ihr euch vorstellen, daß wir unter der Erde ganze neun Kilometer gewandert sind?“
„Bestimmt nicht. Kaum halb so viel. Aber dann …“
„Dann“, gestand Pierre, „verstehe ich überhaupt nichts mehr.“
„Und dieser Springbrunnen vorhin“, fragte Suzanne, „was war das?“
„Einen Springbrunnen nennst du das?“ fragte Raymond ironisch. „Es war eher ein Geiser wie auf Island! Wenn er fünf Minuten früher ausgebrochen wäre, dann wären wir alle miteinander ertrunken. Ich selber bin noch gerade eben davongekommen. In meinem Leben habe ich noch nicht gehört, daß es so etwas in der Normandie gibt!“
Sie bogen um eine zerfallene Mauer, die von Farnkraut und Brennesseln umwuchert war, und setzten auf gut Glück ihren Weg fort.
„Horcht!“ sagte Suzanne.
In regelmäßigen Abständen, halb vom Nebel erstickt, drang an ihre Ohren das Rauschen von Wogen, die gegen Klippen brandeten. Dieser Laut war ihnen zu vertraut, als daß sie sich darüber hätten täuschen können.
Raymond, der vorausging, blieb mit einem Ruck stehen. Zwei Schritte vor ihm war kein Boden mehr. Ziehender Nebel hinderte jede Sicht. Er hob einen größeren Stein auf, schleuderte ihn ins Leere und lauschte angstvoll. Eine Sekunde, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, verging, ehe er den Aufprall des Steines an einem Felsen vernahm.
„Zurück!“ sagte er. „Wir sind am Rande einer Klippe, die steil abfällt.“
„Einer Klippe!“ rief Pierre. „Wenn du an der Bucht auf eine Klippe stoßen willst, mußt du bis hinter Saint-Jean-le-Thomas gehen. Was du da redest, ist Unsinn.“
„Vielleicht sind wir wieder auf dem Mont Saint-Michel?“ wagte Jacques zu fragen.
„Dann hätte der unterirdische Gang im Kreis herumführen müssen, ohne daß wir etwas davon gemerkt hätten“, erklärte Raymond. „Außerdem kenne ich den ,Mont‘ wie meine Tasche. Nirgendwo gibt es dort so etwas wie die paar Meter Heide, über die wir eben gegangen sind.“
„Der Nebel wird immer dichter“, stellte Pierre fest. „Wir sollten uns lieber nicht weiterwagen.“
Wirklich wurde es dunkler und dunkler.
„Das soll vom Nebel kommen?“ fragte Suzanne. „Viel eher sieht es so aus, als ob es Abend würde.“
„Abend! So etwas!“ rief Raymond lachend. „Hast du schon einmal erlebt, daß es morgens um sieben Abend wurde?“
„Und woher willst du wissen, daß es sieben Uhr morgens ist?“
„Weil meine Uhr mir das sagt.“
„Deine Uhr sagt dir, daß es sieben ist“, erklärte Suzanne unbeirrt. „Sie sagt dir aber durchaus nicht, daß es sieben Uhr morgens ist.“
Sie tasteten sich aufs Geratewohl einige Schritte durch das Gebüsch und kamen wieder an die verfallene Mauer. Wortlos ließ Suzanne sich auf einen Stein fallen, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Es wurde immer dämmeriger.
„Das ist doch vollkommen unmöglich!“ stieß Raymond hervor. „Ich
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