Der versunkene Wald
stieg Raymond auf Pierres Schultern und machte sich daran, die hervorstehenden Wurzeln sachgemäß zu zerkleinern. Er benutzte den Baumstamm als Sägebock und schnitt die Wurzeln mit seinem Messer in Stücke.
„Der Klinge wird das nicht gut bekommen“, bemerkte er, „aber wir haben ja noch mehr Messer.“
Plötzlich sahen die anderen, daß er die Arbeit unterbrach. Er legte den Finger auf die Lippen und gebot ihnen Schweigen. Dann hielt er das Ohr dicht an den Baumstamm, und in seinem Gesicht malte sich Überraschung.
„Hörst du Stimmen?“ fragte Suzanne.
„Hat jemand dich am Telefon verlangt?“ erkundigte sich Jean.
„Vielleicht will Julius Cäsar ein Wörtchen mit dir reden?“ meinte Jacques.
„Kommt selber und horcht“, antwortete Raymond. „Ich habe keine Ahnung, was das sein kann.“
Sie stiegen einer nach dem anderen hinauf, abwechselnd auf Raymonds oder Pierres Rücken. Und jedesmal, wenn wieder einer das Ohr an die alte Eiche aus dem Wald von Quokelunde legte, erschien der gleiche erstaunte Ausdruck auf seinen Zügen.
Weder Julius Cäsar noch sonst eine Menschenstimme war zu vernehmen, sondern ein dumpfes und ununterbrochenes Geräusch, das für Augenblicke anschwoll und wieder schwächer wurde, alles in ganz regelmäßigem Rhythmus. Es klang wie das schwere Atmen eines Ungeheuers.
Pierre dachte nach, und die Frage, die er dann stellte, schien töricht.
„Wieviel Uhr ist es?“
„Sechs Uhr“, antwortete Raymond adiselzuckend. „Als ob hier unten die Zeit eine Rolle spielte!“
„Sechs Uhr morgens“, wiederholte Pierre. „Wir haben nicht gerade in den Tag hinein geschlafen. Es ist Dienstag, der 7. September, sechs Uhr morgens. Die Flut war gegen halb fünf auf ihrem Höchststand. Seit etwas über einer Stunde geht sie zurück. Wenn heute nacht Wind aufgekommen ist, brechen sich die Wellen jetzt am ,Mont‘.“
„Ist das ein Wetterbericht des meteorologischen Instituts?“ fragte Suzanne.
„Nein, sondern die Erklärung dieses sonderbaren Geräusches. Holz leitet den Schall besonders gut. Die Spitze dieses Baumstammes steckt im Sand, wahrscheinlich nicht allzutief unter der Oberfläche. Sie nimmt das Wogengetöse auf und gibt es durch Schlamm- und Felsenschichten hindurch weiter.“ Es war unheimlich sich vorzustellen, daß wenige Meter über ihren Köpfen sich die aus der Weite des Meeres hereingeströmten Wogen brachen.
„Die Flut geht übrigens schnell zurück“, fügte Pierre hinzu. „Sehr lange werden wir sie nicht mehr hören.“
Raymond kletterte noch einmal hinauf und legte sein Ohr an den Stamm.
„Du hast recht“, sagte er, „das Rauschen läßt schon nach.“ Auch Jean wollte noch einmal lauschen. Er vernahm nur noch fünf oder sechsmal einen schwachen Laut, dann war es still. Um Kilometer und aber Kilometer würde die Ebbe das Wasser jetzt zurücknehmen. So war das seit Hunderten von Jahren, seit die Fluten, die sich über den Wald herstürzten, den Hügel von Saint-Michel in eine Insel verwandelt hatten. Und so würde es sein bis zu dem Tage, an dem der Ingenieur Faugeras seinen Traum verwirklichen und die Wasser des Ärmelkanals zwischen den Staudämmen seines gewaltigen Kraftwerkes gefangennehmen würde …
Was hätte er wohl gesagt, wenn er seinen Sohn zehn Meter unter dem Meeresgrund beim Feuerschein einer Eiche aus dem Wald von Quokelunde hätte sehen können?
Das Holz verzehrte sich ganz langsam weiter. Raymond starrte in die Glut und dachte mit Sorge daran, daß sich rund um eine Feuerstelle mit schlechtem Abzug das tödliche Kohlenoxyd sammelt.
„Jetzt brauchen wir kein Feuer mehr“, entschied er. „Wir wollen es lieber ausgehen lassen. Wir können es ja wieder anzünden, wenn es nötig wird. Wir sind hier nicht unter freiem Himmel, und wir könnten uns vergiften, ohne es zu merken.“
„Aber sieh doch“, sagte Pierre, „der Rauch bleibt nicht beisammen. Ein klein wenig Ventilation muß da sein. Von der Richtung her, aus der wir gekommen sind, dringt Luft herein, außer bei ganz hoher Flut.“
Er kippte den Tornister ein wenig hintenüber, um die Decke besser beleuchten zu können, und setzte das Elektrizitätswerk wieder in Gang. Der Rauch der beiden Feuer stieg zur Decke, aber nicht ganz steil, und er blieb auch nicht stehen. Er wurde leise weitergetrieben und fortgeführt. Aber er zog nicht nach der Seite, von der die Meerkatzen gekommen waren, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
„Du siehst“, sagte Pierre, „der Kamin ist
Weitere Kostenlose Bücher