Der versunkene Wald
vorzüglich. Vom Erstickungstod sind wir jedenfalls nicht bedroht.“
„Diese Römer waren doch tolle Kerle“, fand Suzanne. „Sie haben an alles gedacht, sogar an die Lüftung in einem unterirdischen Gang.“
Jacques traf eine praktischere Feststellung.
„Wenn der Rauch dorthin abzieht“, überlegte er, „muß da irgendwo ein Loch sein, und wenn es auch nur so groß ist, daß Luft durchkommen kann.“
Hier sprach der gesunde Menschenverstand. Der Tunnel mußte noch einen anderen Zugang haben als den, zu dem sie hereingekommen waren. Vielleicht war er groß genug, um nicht nur den Rauch abziehen zu lassen. Das würde die Rettung für die Meerkatzen bedeuten!
Der Gedanke erfüllte sie mit neuem Mut. Sie dachten nicht mehr an die Gefahren, die der unbekannte Teil des Ganges bergen könnte. Jedes Wagnis schien ihnen gering, wenn sie hoffen konnten, diesen verwünschten Katakomben zu entrinnen.
Eine letzte Holzlese kostete Raymond endgültig seine Messerklinge, aber sie erlaubte ihnen doch, allen verfügbaren Platz in Tornister und Brotbeutel, in Hosen- und Jackentaschen mit dem kostbaren Brennmaterial zu füllen. Dann ließen die Meerkatzen die rötlich glimmende Asche ihrer Lagerfeuer zurück und stießen aufs neue ins Unbekannte vor.
Hinter der Einbruchstelle sah der Gang zunächst nicht anders aus als davor. Sie legten ein Stück Weg zurück, dessen Länge schwer abzuschätzen war. Der Rauchfaden zog über ihnen dahin wie ein straffgespannter Telegrafendraht; nur wo sie unter ihm hergingen, wirbelten sie ihn durch die Bewegung auf wie Wasser in der Kiellinie eines Schiffes.
Allmählich stieg der Boden an, und gleichzeitig wurde das Weiterkommen immer mühsamer. Löcher und Buckel hinderten sie bei jedem Schritt. Auch die Wände waren jetzt rauher. Es sah aus, als ob dieser Teil des Ganges, nachdem die verhältnismäßig weiche Schieferschicht zu Ende war, durch denselben Granit führte, der den Sockel des Mont Saint-Michel bildet.
Bald übermannte eine unwiderstehliche Müdigkeit die jungen Höhlenforscher. Sie kamen nur noch mühsam vorwärts und stolperten über jedes Hindernis, auf das nicht genügend Licht fiel. Es half auch nichts, daß sie den Tornister von einem Rücken zum anderen gehen ließen; die Handhabung des Dynamos erschöpfte sie mehr und mehr, und keiner konnte länger als zwei oder drei Minuten lang durchhalten. Jacques stieß gegen eine scharfe Granitkante, fiel längelang hin und stand mit einem böse aufgeschürften Knie wieder auf. Sie beschlossen, eine Ruhepause einzulegen.
„Wir könnten etwas essen“, schlug Raymond vor. „Dann kommen wir wieder zu Kräften.“
„Es ist nichts mehr da“, sagte Suzanne. „Ich habe euch heute morgen den letzten Zwieback gegeben.“
„Dann sollten wir wenigstens etwas trinken“, fing Raymond wieder an. „Im Tornister steckt eine Feldflasche. Ich habe sie an einem Brunnen auf dem Mont Saint-Michel mit frischem Wasser gefüllt. Ein paar Schlucke für jeden gibt das immerhin.“
„Es ist nichts mehr darin“, antwortete Suzanne. „Wovon hätte ich denn sonst Kaffee kochen sollen?“
Beklommenes Schweigen folgte diesen Eröffnungen. Wie lange konnten sie ohne Speise und Trank bestehen? Wie würde es hier noch weitergehen? Pierre stellte bei sich selbst wenig ermutigende Erwägungen an. Vom Mont Saint-Michel an haben wir allerhöchstens zwei Kilometer unter der Erde zurückgelegt, sagte er sich, vielleicht auch etwas mehr; in diesem engen Gang täuscht man sich leicht über die Entfernungen. Zwei Kilometer — das ist genau die Strecke zwischen dem ,Mont‘ und der Küste, das heißt der heutigen Küste, die aus dem Meer wieder abgewonnenen Niederungen besteht. Da dieser Gang irgendwo ins Freie führt, kann das nicht in der Gegend der Polder sein, die fast bis Pontorson reichen, sondern nur an dem Teil der Küste, die nie überflutet worden ist und wo der harte Felsengrund dicht unter der Erde liegt. Bis dahin aber sind es vom ,Mont‘ aus mindestens acht oder neun Kilometer ….
Er behielt diese Gedanken für sich. Sie hätten seinen Gefährten den letzten Mut genommen, sich erneut auf den Weg zu machen. Und doch blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Der dünne Rauchfaden zog immer weiter über ihnen hin wie die Schnur, die Theseus auf Kreta aus dem Labyrinth errettete. Die letzten Holzstücke des Lagerfeuers hinter ihnen hatten sich noch nicht verzehrt. Wenn auch nur ein Hoffnungsstrahl blieb, armseliger selbst als diese schmale
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