Der verwaiste Thron 02 - Verrat
langsamer. Ihre verkrampften Finger lösten sich von den Zügeln.
»Nur ein Verrückter«, flüsterte sie.
Sie ritt weiter die staubige Straße entlang. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen. Die Bäume zu beiden Seiten des Wegs und der Himmel über ihr schienen ein dunkles Zelt zu bilden, in dem die Luft stand.
Regentropfen, schwer und kalt wie Schnee, fielen in den Staub und auf Anas Gesicht. Sie senkte den Kopf. Sie mögen es nicht, wenn man schmutzig ist , hatte er gesagt. Die Worte kreisten durch ihre Gedanken. Wer waren sie ? Die Toten? Und warum hatte er geglaubt, Ana wäre tot? Es waren die Worte eines Wahnsinnigen, trotzdem konnte sie nicht aufhören, nach ihrer Bedeutung zu suchen.
Der Regen wurde heftiger, ließ die Welt vor Anas Augen verschwimmen. Sein Rauschen schluckte alle anderen Geräusche, bis nichts mehr zu existieren schien außer ihm, ihren Gedanken und dem Pferd, auf dem sie saß.
Sie bemerkte die Hütte erst, als sie schon fast daran vorbeigeritten war.
Sie stand an einer Kreuzung, an der die Straße auf einen anderen kleineren Weg stieß, der von Norden durch den Wald führte. Einige Pferde und Ponys hatte man in einem Unterstand angebunden, ein kleines Mädchen hockte neben ihnen im Stroh, die Knie angezogen, das Kinn auf ihre verschränkten Arme gelegt. Es sah Ana desinteressiert an.
Hinter der Hütte war ein schmales Feld zu sehen. Grüne, hochgewachsene Pflanzen, die Ana nicht kannte, ließen die Blätter hängen. Einige Hühner standen unter ihnen, um sich vor dem Regen zu schützen.
Jemand hatte einen alten verrosteten Kessel an einen Baum vor der Hütte genagelt – das Zeichen für eine Taverne. Erst da bemerkte Ana, wie nass und durchgefroren sie war. Wasser lief aus den Falten ihres Umhangs, als sie abstieg und das Pferd zum Unterstand führte.
Das Mädchen stand auf und streckte die Hand aus. »Zwei Kupfermünzen, dann striegle ich dein Pferd, füttere es und passe darauf auf.«
Ana zog ihren Geldbeutel aus dem Gürtel. Sie wusste nicht, ob der Preis angemessen war. In Somerstorm hatte sie sich um so etwas nicht gekümmert, und auf ihrer Reise hatte sie Jonan das Geld verwalten lassen.
»Hier«, sagte sie und drückte dem Mädchen die zwei Münzen in die schmutzige kleine Hand.
Sie mögen es nicht, wenn man schmutzig ist , dachte sie erneut.
»Ist die Taverne geöffnet?«, fragte sie dann, während sie damit begann, ihr Pferd abzusatteln. Sie hatte gelernt, nichts von Wert in der Obhut anderer zu lassen. Eine Lektion von Jonan, die sie nicht vergessen hatte.
Das Mädchen zeigte stumm auf die Tür. Ana zog den Sattel vom Pferderücken und ging auf die Hütte zu. Über ihr blitzte es. Sie spürte den Donner in ihrem Magen.
Die Tür klemmte. Ana musste sie mit beiden Händen aufziehen. Mit dem Fuß schob sie den Sattel ins halbdunkle Innere, dann drückte sie die Tür zu und drehte sich um.
Sechs Menschen sahen sie an. Fünf von ihnen saßen auf Hockern an einem Tisch vor dem Kamin, der sechste, eine rundliche Frau mit langen grauen Haaren, stand am Kessel, der über dem Kamin hing, und rührte darin mit einem Holzlöffel. Es roch nach Fett, Bier und Rauch. Die hintere Tür war geöffnet und trug Luft und Feuchtigkeit ins Innere. Fenster gab es keine.
»Den Göttern zum Gruß«, sagte die Frau und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war verschwitzt. Ihre Wangen waren gerötet.
»Den Göttern zum Gruß«, sagte Ana. Sie legte den Sattel neben die Habseligkeiten der anderen Gäste: Sättel, Rucksäcke, zwei Bündel mit Tierfellen, eine große Tasche voller Werkzeug und mehrere Kisten.
Einer der Gäste, ein grobschlächtig wirkender Mann mit Unterarmen, die breiter als Anas Beine waren, stand von seinem Hocker auf.
»Setz dich ans Feuer, Mädchen«, sagte er. Sein Körper wirkte zu groß für die Hütte, seine Stimme schien für weite Ebenen, nicht für enge Räume bestimmt zu sein. Auf seiner Stirn war ein Hammer tätowiert. Er war ein reisender Schmied.
»Ich will dich nicht von deinem Platz vertreiben.«
Der Mann winkte ab. »Mein Hintern fängt gleich Feuer, so warm ist er.«
Die anderen Gäste lachten. Ana sah sie an. Es waren zwei Frauen und zwei Männer, die anscheinend zusammen reisten. Das jüngere Paar wirkte so alt wie sie, das ältere fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahre älter. Ana nahm an, dass es sich um eine Familie handelte.
»Danke«, sagte sie und legte den durchnässten Umhang ab. Darunter trug sie die Kleidung, die Jonan den
Weitere Kostenlose Bücher