Der Vierte Tag
und lernte den Patienten Sauerbier kennen.
"Dieser Druck, Herr Doktor! Ich halte das nicht mehr aus! Ich habe einen Herzinfarkt!"
"Wo ist er denn, der Druck?"
"Hier", antwortete Herr Sauerbier und deutete auf seine linke Brust, "hier, genau am Herzen."
Ich drückte leicht auf die angegebene Stelle.
"Aua!"
Also nicht das Herz. Irgendein punktueller Schmerz, wahrscheinlich ein Problem mit der Brustwirbelsäule. Das unauffällige EKG von Herrn Sauerbier entsprach dieser Einschätzung.
"Habt ihr schon sein Troponin?"
Troponin ist ein Eiweiß, das bei einem akuten Herzinfarkt ziemlich früh im Blut nachweisbar ist.
"Ja. Negativ."
Also ab nach Hause oder zum Orthopäden mit Herrn Sauerbier.
"Was ich noch sagen wollte", mischte sich Herr Sauerbier ein, "mit diesem Spray von meinem Hausarzt werden die Schmerzen besser."
Ich lasse mir das Spray zeigen: Es ist ein Nitratspray, ein idealer Stoff, um verengte Herzkranzgefäße zu entspannen und damit den Schmerz zu nehmen. Also doch das Herz?
"Wie lange dauert es, bis nach dem Spray die Schmerzen besser werden?"
"Na, sofort sind sie nicht weg."
"Ich brauch das genauer, Herr Sauerbier. Waren die Schmerzen nach fünf Minuten weg oder eher nach einer halben Stunde?"
"Richtig weg waren sie nie. Aber sie wurden besser."
Stopp, Dr. Hoffmann! Bleib ruhig! Es besteht kein Anlass, den armen Patienten zu würgen. Er kann nichts für seine ungenauen Angaben und schon gar nichts dafür, dass du Nachdienst hattest und längst zu Hause im Bett sein wolltest.
"Gut, noch einmal: Wurden die Schmerzen fünf Minuten oder eine halbe Stunde nach dem Spray besser?"
"Na, vielleicht nach einer Viertelstunde."
Großartig! Nun war wieder alles offen. Nächster Versuch.
"Haben sie ähnliche Beschwerden schon früher gehabt?"
"Ja, bei Anstrengung ..."
Bingo! Doch das Herz, lege ich mich jetzt fest.
"... aber auch in Ruhe. Und außerdem habe ich noch dieses Kribbeln in den Beinen. Seit Wochen!"
Langsam wurde klar, warum mich die Kollegen in die Aufnahmestation gerufen hatten. Sie suchten jemanden, der ihnen die Verantwortung abnahm. Warum fällt es den Patienten so schwer, sich mit ihren Beschwerden ans Lehrbuch zu halten? Mit seinen Angaben konnte man Herrn Sauerbier mit guten Gründen sowohl nach Hause schicken als auch sofort in unser Herzkatheterlabor. Solange man es nur dokumentierte, sollte es später zu einer Klage kommen. So oder so stand mir noch einiges an Schreibarbeit bevor.
"Ich gehöre auf die Intensivstation!" unterbrach Herr Sauerbier meine Überlegungen.
Das war doch ein vernünftiger Kompromiss! Warum nicht gleich so? Die internistische Intensivstation war aktuell sowieso kaum belegt. Dort würden Herzschlag und Blutdruck am Monitor überwacht und alle halbe Stunde das EKG kontrolliert. Während ich dann endlich im Bett liegen würde, könnte Chefarzt Zentis dann entscheiden, wie es weiterging.
"So machen wir es. Wir legen Sie auf unsere Intensivstation."
Und um endlich nach Hause zu kommen, schob ich Herrn Sauerbier auf seiner Trage gleich selbst in den vierten Stock. Denn die Schwestern würden mich nur informieren, dass Patiententransporte nicht ihre Aufgabe seien und sie dazu auch keine Zeit hätten, und auf die Leute vom Patiententransport hätte ich wahrscheinlich wieder stundenlang warten können. Personaleinsparungen sind lange nicht mehr das Privileg der freien Wirtschaft.
Aber ich hätte trotzdem längst vor dem Auftritt des Blinden zu Hause sein können, hätte ich mich nicht mit Schwester Käthe verquatscht. Hatte ich aber. Und sitze nun voll mit in der Patsche. Ich versuche krampfhaft, mich an die Fernsehreportage zu erinnern, in der einer dieser Survivalfreaks erklärt hat, wie man jede Handschelle ohne Schlüssel öffnen kann, ganz einfach, angeblich nur über den Federmechanismus. Natürlich hatte ich wieder nicht aufgepasst.
Nach vollbrachter Geiselfesselung steht Renate etwas ratlos in der Gegend herum, fragt sich wahrscheinlich, ob sie sich nun auch selbst an das Heizungsrohr anschließen soll. Doch der Blinde gibt keine entsprechende Anweisung.
Stattdessen fragt er: "Wie viele Patienten haben wir hier zur Zeit, Schwester Renate?"
Richtig! Warum kommt uns eigentlich niemand von denen zu Hilfe? Wenigstens Herr Sauerbier, den ich höchstpersönlich hierher gebracht habe, ist doch eigentlich gut zu Fuß. Ich schaue mich nach ihm um. Bereut er inzwischen seinen innigen Wunsch, auf die Intensivstation gelegt zu werden? Offensichtlich nicht.
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