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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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Grundsanierung plant, was mehr als dringlich ist. Einen traurigen Beweis dafür sehe ich täglich auf der chirurgischen Intensivstation. Fast ebenso gut unter medizinischer Hightech verborgen wie hier die Patientin in Bett vier liegt dort ein Angestellter der Reinigungsfirma, der beim Fensterputzen in unserem sogenannten Neubau mitsamt dem Fensterkreuz, das ihn eigentlich halten sollte, zwei Stockwerke hinunter in den Innenhof gestürzt war.
    "Du hast recht, Zentis. Mit seiner dunklen Brille wäre dieser Typ nie durch deine Iris-Erkennung gekommen. Alles meine Schuld!"
    Zentis brummelt etwas Unverständliches. Er hasst es, wenn ich ihn duze.
    "Würden sich die beiden Herren wohl bitte vorstellen?"
    Plötzlich zeigt die Pistole auf uns. Haben wir den Blinden mit unserem Gezischel gestört? Aber er droht uns nicht, will wohl nur klarstellen, wen er meint.
    Zentis presst die Lippen aufeinander wie ein störrischer Schuljunge. Mir hingegen scheint jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Verstockung.
    "Ich bin Dr. Felix Hoffmann, Oberarzt der Inneren Abteilung."
    Würde es etwas bringen, den Blinden darauf hinzuweisen, dass ich eigentlich gar nicht hierher gehöre und außerdem nach meinem Nachtdienst furchtbar müde bin? Und dass ich eigentlich als Oberarzt gar keinen Nachtdienst machen müsste, wäre da nicht die dünne Personaldecke und das Bemühen, unsere Assistenzärzte wenigstens nicht länger als vierundzwanzig Stunden im Dienst zu halten und nicht mindestens zweiunddreißig wie früher? Im Moment wichtiger noch: Würde es die Situation entspannen, wenn ich jetzt Zentis vorstelle, oder wäre das ein gefährliches Zeichen von Schwäche? Was sagt das psychologische Handbuch über die goldenen Grundregeln gegenüber einem Blinden mit Pistole?
    Zentis nimmt mir die Entscheidung ab, mit zackiger Stimme.
    "Ich bin Chefarzt Dr. Zentis. Und ich fordere Sie auf, diesen Unfug sofort zu beenden. Vielleicht können wir dann sogar etwas für Sie tun."
    Na, denke ich, vielleicht ist das die richtige Art, mit diesem Kerl umzugehen! Aber dann macht Zentis alles kaputt.
    "Zum Beispiel in unserer psychiatrischen Abteilung."
    So steht es sicher nicht im Handbuch für Geiseln. Doch, sollte er gereizt sein, lässt es sich der Blinde nicht anmerken. Erneut wendet er sich Renate zu.
    "Und die zweite Dame?"
    "Ich bin Schwester Käthe", meldet die sich vom Heizungsrohr gegenüber. "Und ich habe ein Problem. Ich muss spätestens in einer Stunde bei meiner Großtante sein. Meine Großtante ist bettlägerig und absolut auf Hilfe angewiesen."
    Das klingt, als gehöre auch Schwester Käthe zum Rette-sich-wer-kann-Club, ist aber die reine Wahrheit. Wir alle hier wissen das, außer Zentis wahrscheinlich. Schwester Käthe arbeitet mit ihren über sechzig Jahren und operiertem Brustkrebs aufopferungsvoll wie kaum jemand in der Klinik, fehlt so gut wie nie und pflegt außerdem seit Jahren diese bettlägerige Großtante. In Käthes Welt ist es ihre Pflicht, den Blinden darauf hinzuweisen, dass sie wichtigere Verpflichtungen hat, als an ein Heizungsrohr gekettet sinnlos herumzusitzen, und dass er nun auch eine Verantwortung für ihre Großtante übernommen hat.
    "Ich werde ihre Großtante nicht vergessen, Schwester Käthe", antwortet der Mann mit der Pistole.
    Erstaunlich, aber er hat das so gesagt, dass ich es ihm abnehme. Hat er damit gemeint, dass dies hier nur eine kurze Sache wird, wir alle bald frei sind?
    "Außerdem", fährt der Blinde fort, "das gilt für alle hier: Niemandem wird etwas geschehen, solange sie sich vernünftig verhalten."
    "Was wollen Sie denn eigentlich von uns?" meldet sich Zentis wieder.
    "Von Ihnen, Herr Chefarzt, will ich gar nichts. Alles weitere werden Sie früh genug erfahren."
    Für einen Moment wenigstens hat der Blinde meine Sympathie. Nie könnte ich das Wort "Chefarzt" in Verbindung mit Zentis so schön betonen wie er. Bei ihm klingt es nach einer nicht sehr appetitlichen, letztlich unheilbaren Krankheit.
    Aufgereiht wie für ein Erinnerungsfoto stehen der Blinde und sein Schäferhund vor uns, zwischen sich den großen Rucksack. Wieder winkt der Blinde Schwester Renate mit einer knappen Geste näher.
    "Ich muss Sie noch um einen weiteren Gefallen bitten, Schwester Renate. Wollen Sie jetzt so freundlich sein, bei meinem Rucksack die Haupttasche in der Mitte zu öffnen?"
    Neben mir höre ich Zentis einatmen. "Gehorchen Sie ihm einfach nicht", scheint er sagen zu wollen, besinnt sich dann aber und hält den Mund.

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