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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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Vielleicht weil er ebenso gespannt ist wie der Schäferhund, der nun seine ganze Aufmerksamkeit dem geöffneten Rucksack widmet, wohl gewöhnt, dass von dort geheimnisvoll eine Dose Schappi, Pal oder gelegentlich sogar eine Scheibe gekochter Schinken auftauchen.
    Doch der Hund wird enttäuscht. Mit wenig Begeisterung schnuppert er an den identischen Päckchen von jeweils halber Schuhkartongröße. Es sind keine mit Draht zusammengebundenen Dynamitstangen, wie man sie aus entsprechenden Filmen kennt, aber ihre Funktion dürfte die gleiche sein, wie schnell klar wird.
    "Nun, Schwester Renate, verteilen Sie bitte diese Päckchen. Ich denke, jeweils eines an die Heizkörper, zwei an die Tür zur Station, und zwei an die Wand in diesem ruhigeren Zimmer."
    Wieder eine Hoffnung weniger! Natürlich habe ich mir inzwischen Gedanken zu möglichen Fluchtwegen gemacht, und unser ruhiges Intermediate-Zimmer spielte dabei die Hauptrolle. Die Intensivstation befindet sich im unverändert als "Neubau" bezeichneten Teil der Humana-Klinik, aber wie nicht nur unsere sanierungsbedürftigen Fensterkreuze beweisen, hat auch dieser Neubau inzwischen über vierzig Jahre auf dem Buckel. Damals hielt gerade die Medizintechnik Einzug in die Krankenhäuser, man schuf Intensivstationen als einen großen Raum zur zentralen Überwachung kritischer Patienten. Heute haben Intensivstationen zusätzlich ruhigere Zimmer für Patienten, die mit weniger Technik auskommen. Wir haben das Problem gelöst, indem ein Stück Flur hinter der Intensivstation mit einer Rigipswand in ein sogenanntes Intermediate-Zimmer verwandelt wurde. Und spätestens, seit ein von uns überdosierter Patient durchgedreht ist und ein tellergroßes Loch in diese Rigipswand getreten hat, wissen wir alle um deren Instabilität.
    Offensichtlich auch der Blinde. Woher, frage ich mich, kennt er sich hier so gut aus? Ein unzufriedener, obgleich offensichtlich genesener Patient? Ein entlassener Mitarbeiter? Ich versuche, mir den Blinden ohne die dunkle Brille vorzustellen. Wie sehr bleibt man doch an solchen Äußerlichkeiten hängen!
    An das Heizungsrohr gefesselt, stelle ich mir das Gespräch mit dem Herrn Hauptkommissar nach unserer Befreiung vor.
    "Wie sah er denn aus, dieser Blinde, Dr. Hoffmann?"
    "Also, er hatte so eine dunkle Blindenbrille auf, am Arm diese gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten. Er trug ein Paar ausgebeulte Billigjeans und ein nicht ganz sauberes weißes T-Shirt."
    "Können Sie uns etwas zu seinem Alter sagen? Gesichtsform? X- oder O-Beine? Haarfarbe? Größe?"
    Ziemlich verlegen hebe ich gegenüber dem Herrn Kommissar die Schulter.
    Also schaue ich mir unseren Geiselnehmer genauer an: nein, keine X-Beine, keine O-Beine. Gesicht eher breit als schmal, kein Bart. Ansatz zum Doppelkinn. Augenfarbe unsichtbar, Haarfarbe dunkelblond bis braun, fettig. Alter zwischen vierzig und fünfzig, mittlere Größe, leicht gebeugte Haltung. Keine sichtbaren Narben oder Muttermale.
    Na toll, mit dieser unverwechselbaren Beschreibung würde man diesen Kerl sofort fassen! Oder mich verhaften. Allerdings fehlt mir der Ansatz zum Doppelkinn, finde ich. Jedenfalls, so sehr ich mich auch mühe, entdecke ich keine Ähnlichkeit zu einem ehemaligen Patienten oder Mitarbeiter.
    Inzwischen hat der Kerl ein Problem: Renate ist mit seinen Päckchen im Intermediate-Zimmer verschwunden. Wieder Blödsinn, fällt mir ein, kein neues Problem, denn selbst würde er ihr folgen, könnte er nicht sehen, was sie dort anstellt. Oder doch?
    Ist er nun blind oder nicht? Und: Wird sich Renate an den durchgedrehten Patienten und die Rigipswand erinnern? Warum flüchtet sie jetzt nicht, holt Hilfe? Weil, ist die einfache Antwort, der Blinde vielleicht wirklich blind ist, aber, wie Zentis vorhin erfahren musste, nicht taub. Selbst mit einem gewaltigen und damit geräuschvollen Tritt wäre ein neues Loch in der leidgeprüften Rigipswand ohne Nacharbeit nicht groß genug, um dadurch zu verschwinden. Also hätte Renate am Ende nur ein Loch in der Wand und die Reißzähne des Schäferhundes oder die Pistole des Blinden am Hintern. Und auch wir, in Handschellen an die Heizung gekettet, könnten die Situation nicht zur Flucht nutzen.
    All das und vielleicht noch mehr mag Renate durch den Kopf gegangen sein, jedenfalls hat auch sie das Problem nicht lösen können und taucht wenig später wieder bei uns auf.
    "Alles erledigt."
    Was nicht stimmt. Die beiden Sprengstoffpakete (ich denke, an Sprengstoff besteht kein

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