Der Vierte Tag
zuerst nach den Patienten gefragt.
"Das werden auch Sie noch früh genug erfahren."
Das hatten wir vorhin schon, bei Zentis: Die Antwort auf die Frage nach seinen Absichten oder Forderungen.
"Auch das werden Sie noch früh genug erfahren."
Wahrscheinlich die Frage nach dem Motiv, immer wichtig für den Psychiater.
"Nein, das habe ich nicht vor. Vorerst nicht."
Hat er gefragt, ob er nicht besser aufgeben sollte? Oder ob er Gewalt anwenden will? Er sollte den Geiselnehmer nicht auf Ideen bringen!
Aber wahrscheinlich sind Wetzels' Fragen viel subtiler. Schon oft habe ich sein Verhandlungsgeschick bewundert, wenn mir auch nie klar geworden ist, worin es liegt. Ich erinnere mich an einen voll durchgeknallten Lümmel von fünfzehn Jahren, den die Polizei in Handschellen auf unsere Aufnahmestation geschleppt hat. Wir sollten die Haftfähigkeit bestätigen, eine der beliebtesten Aufgaben im Nachtdienst. Der Junge grölte und schrie wie am Spieß, hätte bald auch unseren letzten Patienten aufgeweckt. Als Arzt hielt ich mich auch für einen schlauen Psychologen.
"Nehmen Sie ihm bitte die Handschellen ab", wies ich die Polizisten in überlegener Doktor-Manier an. Jeder Mensch wird vernünftig, meinte ich, stellt man sein Freiheitsgefühl wieder her und begegnet ihm auf Augenhöhe.
"Auf Ihre Verantwortung, Doktor."
Es dauerte keine drei Minuten, bis ich, inzwischen mit angebrochener Nase und einer blutenden Augenbraue, dem tobenden Jungen die Handschellen wieder anlegen ließ. Was sich als nicht ganz einfach herausstellte. Dann rief ich Wetzels, der psychiatrischen Notdienst hatte. Der verschwand mit dem Lümmel in einem unserer ziemlich hellhörigen Untersuchungsräume, aber nicht ein Laut drang zu uns. Nach einer halben Stunde tauchte Wetzels mit einem lammfrommen Jungen wieder auf.
"Wie hast du das gemacht?"
"Na, erst einmal musst du ihm die Handschellen abnehmen, Felix. Gleiche Augenhöhe, das ist das ganze Geheimnis."
Offenbar nicht. Aber bei unserem Blinden scheint auch Dr. Wetzels an seine Grenzen gekommen zu sein. Ihr Telefonat geht offenbar zu Ende.
"Dafür ist gesorgt", höre ich.
Wofür? Für unsere Ernährung? Oder dafür, dass wir alle in die Luft fliegen, sollte die Intensivstation erstürmt werden?
"Daran kann ich Sie nicht hindern, Dr. Wetzels. Guten Tag."
Ich stelle mir vor, dass Dr. Wetzels die Polizei ins Spiel gebracht hat. Der Blinde legt auf.
Einen Moment herrscht Ruhe, ist nur die regelmäßige Blasebalg-Arbeit der Beatmungsmaschine an Bett vier zu hören.
Doch dann bricht die Hölle los. Neben mir, in Zentis' Kitteltasche, geht es los, dann kommt es von Renate, gleich auch aus der Personalküche, scheinbar überall melden sich Handys mit einer Kakophonie verschiedenster populärer Melodien. Früher war das Krankenhauspersonal über sogenannte Pieper erreichbar, man musste sich dann ein Telefon suchen. Jetzt haben wir alle ein Diensthandy. Aber eigentlich dürften diese sich hier gar nicht melden, sollen auf der Intensivstation ausgeschaltet werden. Wie im Flugzeug fürchtet man Störungen der Elektronik. Offensichtlich hält sich außer mir niemand daran.
"Stellen Sie bitte Ihre Handys ab, meine Herrschaften. Und dann übergeben Sie diese an Schwester Renate. Ihre privaten Handys bitte auch."
Wieder bin ich erstaunt, wie gut der Blinde sich bei uns auskennt. Doch ein ehemaliger Mitarbeiter, der seine Wiedereinstellung erzwingen will? Oder das vorenthaltene letzte Urlaubsgeld? Dann haben wir bis jetzt Glück gehabt. Enttäuschte ehemalige Mitarbeiter, das liest man zumindest aus Amerika immer wieder, neigen durchaus zu einem Amoklauf durch ihre alte Arbeitsstelle, mit tödlichem Ausgang für die früheren Kollegen.
Der Blinde zählt inzwischen die von Renate eingesammelten Handys nach, bevor er sie in seinen Rucksack fallen lässt.
"Ich zähle hier sechs Handys. Ich gehe mal davon aus, dass Sie alle ein Diensthandy und ein privates haben. Dann fehlen mir noch zwei."
"Mein privates Handy liegt in meinem Büro", behauptet Zentis.
"Ich habe kein eigenes Handy", erkläre ich.
Inzwischen kennt der Blinde die Wege auf der Intensivstation schon ganz gut, außerdem kann er sich an unseren Stimmen orientieren. Zuerst tastet er Zentis ab und entdeckt schnell das Handy in dessen Kitteltasche.
"Keine Spielchen, Herr Chefarzt. Das gilt auch für Sie."
Bei mir findet er keines. Sein Hund auch nicht.
Kaum sind die Handys eingesammelt, bricht schon wieder die Hölle aus. Von neuem tritt und
Weitere Kostenlose Bücher