Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)
Fläschchen, rund die Hälfte eines durchschnittlichen Monatsgehalts. Dieser Preis verstärkte die kostbare Aura der Tinktur noch zusätzlich.
Kostbar war Radithor dabei vor allem für Bailey: Die Tinktur bestand aus destilliertem Wasser und radioaktiven Isotopen im Wert von circa 7 Dollar pro Kasten, was beachtliche 23 Dollar Gewinn einbrachte. Bailey setzte große Mengen per Zeitungsannonce ab, den Rest brachten andere für ihn an den Mann – vor allem die Ärzte.
Denn die bekamen einen Preisnachlass von 5,10 Dollar pro Kasten, den sie in die eigene Tasche stecken konnten. Es dürfte die Begeisterung, mit der sie die Flüssigkeit ihren Patienten verabreichten, durchaus gefördert haben: Mit Radithor ließen sich höchst lukrative Geschäfte machen. Andererseits war auch auf Seiten vieler Mediziner die Naivität über mögliche schädliche Konsequenzen des Radium-Konsums kaum weniger ausgeprägt als bei deren Patienten. Auch Byers Hausarzt C. C. Moyar verteidigte die Radium-Tinkturen noch Jahre nach dem Tod seines Patienten und gab an, selbst eifriger Anwender gewesen zu sein.
Auch Byers ließ sich überzeugen – und mehr als das: Er war völlig hingerissen. Der quälende, längst chronische Schulterschmerz ging nach einer Weile tatsächlich zurück. Das Wundermittel, von seinem Erfinder als »Heilung für lebende Tote« und »Ewiger Sonnenschein« vermarktet, beförderte seine Befindlichkeit derart, dass er bald strahlend aussah und sich regelrecht verjüngt fühlte.
Mediziner erklären solche kurzfristigen Effekte auf radioaktive Isotope als eine Art Aufbäumen des permanent herausgeforderten, das heißt gereizten Immunsystems. Weil Radium sich im Körper aber ähnlich verhält wie Calcium und dieses im Gewebe ersetzen kann, reichert es sich vor allem in den Knochen an. Byers, fest überzeugt, eine Art Jungbrunnen entdeckt zu haben, hatte seine Dosis auf bis zu drei Flaschen am Tag erhöht. Was er nicht ahnte, war, dass sein Skelett schon nach relativ kurzer Zeit erhebliche Mengen Radium angesetzt hatte – mehr, als irgendjemand überleben kann.
Bis zu der Erkenntnis, dass er sich zu Tode hatte therapieren lassen, sollten rund drei Jahre vergehen. In dieser Zeit, sagte Byers am 10. September 1931 gegenüber einer Untersuchungskommission der amerikanischen Federal Trade Commission aus, habe er schätzungsweise 1.400 Radithor-Flaschen zu sich genommen. Das Protokoll wurde in Byers Haus auf Long Island aufgenommen, denn längst war der Körper des einstigen Sportlers so vom Krebs zerfressen, dass er sich nirgendwo mehr hinbewegte.
Byers Aussage schockierte die Öffentlichkeit in erheblichem Maße. Radioaktive Zusätze in diversen Lebensmitteln, Kosmetika und Medikamenten gehörten seit rund zwei Jahrzehnten zum Alltag. Wer es sich leisten konnte, warf radiumversetzte Genussmittel ein, therapierte seinen Schnupfen mit Strahlung oder produzierte herrlich prickelndes Radonwasser als sommerliche Erfrischung. Aus Deutschland exportierte eine Edel-Schokoladenfabrik die höchst erfolgreiche radioaktive Gesundheits-Schokolade in die ganze Welt. Das sollte jetzt auf einmal alles falsch sein?
Nur wenige Jahre zuvor hatte das US-Gesundheitsministerium die Hersteller von Radonwasser-Aufbereitern noch unter Druck gesetzt, weil diese mit ihren Blubbergefäßen produzierten Radonwässerchen nicht genügend Radioaktivität produzierten, um als medizinisch wirksam vermarktet werden zu dürfen. In der Folge gingen die Entwickler bis ans Äußerste, um die vorgegebenen Radioaktivitätswerte zu erreichen: Wer unter den Grenzwerten blieb, konnte seine Prickelwässerchen allenfalls als Erfrischungsgetränk anpreisen. Nur was wirklich strahlte, galt als Heilwasser. Der Fall Byers war eine echte Kehrtwende – und eine, auf die die Federal Trade Commission bereits gewartet hatte.
Denn natürlich war es längst nicht mehr neu, dass Radioaktivität schädliche Nebenwirkungen hatte. Die gesetzliche Einstufung von Uran, Radium und anderen radioaktiven Metallen und Mineralien als natürliche Rohstoffe verhinderte jedoch, dass die Nahrungsmittel-und Arzneiaufsicht tätig werden konnte: Die FDC und die erst wenige Jahre zuvor gegründete Food and Drug Administration (FDA) erkannten, dass der Fall Byers hier den Wandel bringen könnte. Zahlreiche Verdachtsfälle hatten nicht ausgereicht, aber das grausame Siechtum eines Prominenten brachte die nötige Presse, um auf den Ende 1930 verhängten vorläufigen Verkaufsstopp von Radithor die
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