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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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der Quadrate in Wirklichkeit eine Tür war.
    Der Raum auf der anderen Seite war ebenfalls mit quadratischen Modulen ausgekleidet, doch hier bestanden sie aus einer Betonmischung mit Zusätzen, die für höchste Zerstörungsresistenz entwickelt worden war. Die Platten hatten einen Durchmesser von nur knapp neun Zentimetern, doch waren sie zehnmal so bruchsicher wie ein fünfzig Zentimeter dicker Block aus normalem Zement. Darüber hinaus waren sie brandsicher und wasserabweisend. Nur eine richtiggehende Nuklearattacke konnte sie sprengen.
    In dem Raum befanden sich drei identische Tresorräume, die alle mit denselben Spezifikationen gebaut worden waren: zweihundertdreißig Quadratmeter Fläche und erdbebensicher – zumindest soweit das architektonisch möglich war. Shabaz hatte den Architekten in dem Glauben gelassen, dass in diesem wie in den anderen beiden Tresorräumen Filmnegative aufbewahrt wurden. Seit ihrer Fertigstellung hatte niemand außer ihm jemals diese Räume betreten. Was sie bargen, war sein Geheimnis.
    Heute Abend beschäftigte sich Shabaz nicht mit einem der kostbaren Objekte, die auf den Regalen standen. Seine Aufmerksamkeit war ganz auf die Staffeleien gerichtet, die in einem Halbkreis in der Mitte des Raums standen. Auf vier der fünf Staffeleien standen Gemälde. Für Shabaz’ Kennerblick gehörten diese vier Kunstwerke jeweils zum Besten aus dem Œuvre jedes der vier Künstler, die sie geschaffen hatten.
    Strand von Scheveningen bei stürmischem Wetter von Vincent Van Gogh war ein graugrün windverwehtes Bild, eine aufgewühlte, emotionale Reaktion des Künstlers auf einen wolkenverhangenen, rauen Tag in dem Badeort bei Den Haag. Ein paar wenige Male hatte Shabaz es gewagt, die dick auf die Leinwand aufgetragene Farbe mit den Fingerspitzen zu berühren. Van Gogh war dafür bekannt, dass er im Freien malte. Es war deshalb nicht verwunderlich, dass der Regisseur echte Sandkörnchen in der Farbe gefunden hatte.
    Der Strand von Pourville von Claude Monet war im Gegensatz zu dem gewalttätigen Van Gogh direkt friedvoll. Das Bild besaß eine ungeheure Farbenfülle. Beim Betrachten bekam Shabaz immer ein Gefühl, als würde er salzige Seeluft einatmen. Der lavendelblaue Himmel, das grüne Meer und der Sandstrand waren mit leichtem Pinselstrich gemalt, doch der Gesamteindruck transportierte mehr, als eine Fotografie hätte vermitteln können.
    Gustav Klimts Damenbildnis war ein atmosphärisches, rätselhaftes Bild. In den mandelförmigen Augen der dunkelhaarigen Frau lag Sehnsucht, eine gewisse Launenhaftigkeit umspielte ihre vollen Lippen. Der tief grünblaue Hintergrund deutete einen Wald an, und in dem gelben Kleid hätte sie eine wundervolle Wildblume sein können, auf die der Maler unerwartet gestoßen war.
    Das vierte Gemälde war das kleinste, ein Miniatur-Juwel. Der Renoir maß nur dreißig auf sechsunddreißig Zentimeter, aber der Strauß rosafarbener Rosen war von ungemein lebensechter Brillanz und Farbenpracht. Mehr als einmal hatte sich Shabaz schon täuschen lassen und gemeint, ihren Duft in dem Tresorraum direkt riechen zu können.
    Nun hielt er ein fünftes Gemälde unterm Arm, das seinen Platz auf der noch verbleibenden Staffelei einnehmen würde.
    Vorsichtig riss Shabaz das Pergamentpapier auf und wickelte das Bild aus mehreren Lagen Luftpolsterfolie. Schließlich legte er eine Explosion an Farben frei. Er hob das Gemälde so sorgsam hoch, als hielte er Schmetterlingsflügel in Händen, und platzierte es auf der leeren Staffelei.
    Dann trat er einen Schritt zurück. Zum ersten Mal erfasste er Blick auf St. Tropez , das Meisterwerk von Matisse, in seiner Gesamtheit.
    Die überschwänglichen Pinselstriche wirkten aus der Nähe direkt primitiv, doch wenn man sie nur aus ein, zwei Meter Entfernung anschaute, formten sie eine lichtdurchflutete Szene am Strand. Es war strahlender und lauter als der Monet – in diesem Gemälde gab es mehr Lebensfreude, es war weniger in der Kontemplation befangen. Vielleicht war es wirklich das Beste der fünf.
    Shabaz’ Hände zitterten, ihm war leicht unwohl. Zwei Jahre und sechs Millionen Dollar hatte es ihn gekostet, um diese besondere Auswahl an Gemälden hier zusammenzubringen. Der erste Schritt seines Plans war endlich vollbracht. Sein Blick glitt von einem Meisterwerk zum nächsten. Welches sollte er nehmen? Vielleicht den Renoir? Vielleicht war ein Stillleben am wenigsten einschüchternd?
    Es war nicht das Geld, das ihm Sorgen bereitete, sondern

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