Der Visionist
1. KAPITEL
Aufgefordert, in aller Kürze den Begriff Kunst zu definieren, könnte ich ihn nur bezeichnen als die Reproduktion dessen, was unsere Sinne durch den Schleier der Seele von der Natur wahrnehmen.
– Edgar Allan Poe, „Marginalien“ –
Vor zwanzig Jahren
Wann immer er vor der Staffelei stand, spielte die Zeit ihm einen Streich. Er war hypnotisiert vom Rhythmus des Pinsels auf der Leinwand, davon, wie eine Farbe in die nächste floss, wie beide Töne einen dritten erzeugten und der dritte in den vierten überging. Sein ganzes Sein war nur noch auf das Bild gerichtet, alles Übrige verschwand aus seinem Bewusstsein. Wenn er so ins Malen eintauchte, dann vergaß er alle Pflichten. Er erschien nicht zu seinen Seminaren, er trank nichts mehr, aß nichts mehr, schaute nicht mehr auf die Uhr.
Und deshalb hetzte Lucian Glass an diesem Freitagabend um 17.25 Uhr die nach Urin stinkenden Treppen in den düsteren U-Bahnhof hinunter, obwohl er eigentlich schon längst im Geschäft von Mr Jacobs sein sollte, wo dessen Tochter Solange ihn erwartete. Sie wollten zusammen in eine Ausstellung eine Straße weiter gehen, im Metropolitan Museum of Art.
Die Jalousien waren unten, als Lucian beim Laden ankam. CLOSED las er auf dem Schild, das in der Tür baumelte; sie war allerdings offen, also trat er ein. Im Innern waren alle Lampen aus, doch dämmriges Licht fiel durch die Fenster. Er sah sofort, dass Solange nicht mehr hier war. Dicht an dicht gedrängt standen hier nur Dutzende von leeren Bilderrahmen, aus denen nur die hellgelb gestrichene Wand hervorblickte. Wie verlorene Seelen schienen sie auf jemanden zu warten, der endlich ihrer Existenz einen Sinn verlieh.
Er hastete nach hinten in die Werkstatt, wo der Geruch nach Klebstoff und Sägespänen stärker wurde. Auch die Stille nahm zu. Kein Ton war zu hören, nur seine eigene Stimme, die ihren Namen rief.
„Solange?“
Er blieb in der Tür stehen und schaute sich um. Auch hier standen nur leere Rahmen. Wo steckte sie nur? Hatte sie hier allein auf ihn gewartet? Lucian trat zu der Werkbank und fragte sich, ob es vielleicht noch ein Zimmer gab. Da sah er sie. Solange lag ausgestreckt auf dem Boden. Sie war so gegen einen großen, verschnörkelten Rahmen gefallen, als wäre sie das Meisterwerk, das er einrahmen sollte. Ihr Blut war auf die zerbrochenen goldenen Leisten gespritzt, ein Stillleben des Schreckens. Auf ihrem Gesicht und den Händen waren Schnitte, und eine Blutlache breitete sich unter ihr aus.
Lucian kniete sich neben sie, er berührte ihre Schulter. „Solange?“
Sie öffnete die Augen nicht, doch ihr Mund verzog sich zu einem kaum sichtbaren Lächeln.
Während er noch darüber nachdachte, was er zuerst tun sollte – ihr helfen oder die Polizei rufen –, öffnete sie die Augen, hob den Arm und berührte ihre Wange. Ihre Fingerspitzen waren rot vor Blut, als sie den Arm wieder senkte.
„Ein Schnitt?“, fragte sie, als hätte sie keine Ahnung, was passiert war.
Er nickte.
„Versprich mir“, flüsterte sie, „dass du mich so nie malen wirst …“ Solange hatte eine halbmondförmige Narbe auf der Stirn und überprüfte immer heimlich, ob ihre Ponyfransen sie auch verdeckten. Wenn sie sich selbst bei der unbewussten Geste erwischte, dann lachte sie über ihre eigne Eitelkeit. Jetzt geriet ihr das Lachen zu einem Stöhnen.
Ihre Lider flatterten, sie wurde wieder ohnmächtig, und Lucian legte ihren Kopf an seine Brust. Es war kein Herzschlagmehr zu hören. Er drückte seinen Mund auf ihre Lippen und versuchte, sie wiederzubeleben, wobei er sich verzweifelt bemühte, ihr Luft in die Lunge zu atmen wie die Leute in den Filmen, die er gesehen hatte. Wahrscheinlich machte er es vollkommen falsch.
Ihm war, als hätte ihre Hand sich bewegt, und für einen Moment durchströmte ihn Erleichterung, weil sie leben und wieder gesund werden würde. Doch dann wurde ihm klar, dass er nur seine eigene Spiegelung in dem glänzenden Rahmen gesehen hatte. Ihr Kopf lag wieder an seiner Brust, und er lauschte, aber es war alles still. Doch als er so dasaß, während das Blut aus ihrer Wunde in sein Brusthaar und das Hemd sickerte, spürte er einen kurzen, heftigen Windstoß.
Lucian war groß gewachsen, aber nicht besonders muskulös. Im Grunde war er nur ein magerer Junge, der ein Maler sein wollte. Er hatte keine Ahnung von Selbstverteidigung, er wusste nicht, wie er das Messer abwehren sollte, das auf ihn niederfuhr und durch sein Hemd in Fleisch und
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