Der Visionist
Muskeln drang. Einmal, zweimal … Das Messer stach auf ihn ein, bis er den Schmerz nicht mehr fühlte. Er selbst war zum Schmerz geworden, sein Körper in Todesangst erstarrt. Er strengte sich an, wollte alles mitkriegen – als ob das noch eine Rolle spielte. Mühsam versuchte er, sich wenigstens die Farben der Szene zu merken, die sich um ihn herum abspielte: die Hemdsärmel seines Angreifers waren ocker, Solanges Haut titanweiß … Er ließ sich treiben.
Als Nächstes hörte er weit entfernt undeutliche Stimmen. Lucian versuchte zu verstehen, was sie sagten.
„… sehr großer Blutverlust …“
„… mehrfache Stichverletzungen …“
Er bewegte sich fort von den Worten. Oder bewegten sie sich fort von ihm? Ließen die Leute ihn hier alleine liegen? Sahen Sie denn nicht, dass er verletzt war? Nein, sie gingen nicht weg … Sie hoben ihn hoch. Sie bewegten ihn. Kühle Luftstrich über sein Gesicht. Verkehrslärm.
Die Stimmen wurden noch undeutlicher.
„Ich spüre keinen Puls mehr …“
„Er kippt uns weg … Schneller, macht schon! Wir verlieren ihn …“
Der Abstand zwischen ihm und den Stimmen wurde mit jeder Sekunde größer. Die Worte waren nur noch ein Flüstern, so weich wie eine Strähne von Solanges Haar.
„Wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig … Er ist weg.“
„Herzstillstand 18.59 Uhr“, hörte Lucian noch einen Sanitäter zum anderen sagen. Danach bekam er nichts mehr mit. Eine Stille war in Lucian eingetreten, die ihn vollkommen erfüllte. Eine Stille, die ihm zu guter Letzt endlich die Schmerzen nahm.
2. KAPITEL
Gegenwart
Das Gebäude an der Ecke 40. Straße und Third Avenue bestand aus treppenförmig angeordneten, verglasten Kuben. Im fünfzehnten Stock, in einem Büro mit einer luxuriösen Ausstattung, die man in dem modernen Gebäude kaum erwarten würde, unterhielten sich drei Männer in einer Konferenzschaltung mit einem vierten über eine sichere Telefonleitung. Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als unnötig. Die Ständige Vertretung der Islamischen Republik Iran bei den Vereinten Nationen hatte die Räume angemietet, und vor dem Einzug hatten sie alle nicht tragenden Wände herausreißen lassen, damit sie die Büros gegen superempfindliche Mikrofone zum Abhören aus weiten Entfernungen sichern konnten. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste, vor allem, wenn man sich auf fremdem Boden befand.
Dichter Rauch hing über dem Tisch in dem fensterlosen Konferenzzimmer, und der Geruch von starkem Tabak nahm Ali Samimi fast die Luft. Er hasste den Gestank von kubanischen Zigarren. Aber er hatte hier nicht das Sagen und konnte sich deshalb nicht beschweren. Er hustete. Und hustete noch einmal. Prompt blies sein Boss eine Wolke in seine Richtung, obwohl er genau wusste, dass Ali Zigarrenrauch nicht vertrug. Typisch Farid Taghinia. Was für ein abgebrühter Riesenarsch von einem Hurensohn! Samimi musste fast grinsen beim bloßen Gedanken daran, wie die Amis fluchten.
„Bei der Zusammenarbeit mit den Briten, den Franzosen und den Österreichern gibt es keine Probleme. Nur bei den Amerikanern tauchen immer wieder Komplikationen auf. Ich habe dem Museum erlaubt, die Skulptur für die Eröffnung ihres neuen Flügels noch zu behalten. War das denn keine großzügige Geste? Haben sie denn unsere Dokumente nicht gesehen?Sie beweisen eindeutig, dass die Skulptur gestohlen ist. Warum zögern sie die Übergabe immer noch hinaus?“ Die Stimme von Hicham Nassir war sechstausend Meilen entfernt, doch selbst über diese Distanz war sein Unverständnis nicht zu überhören.
„Ich habe ihnen die Dokumente noch nicht gezeigt“, erklärte Vartan Reza, ein im Iran geborener amerikanischer Rechtsanwalt mit zerfurchten Gesichtszügen. Er war auf Kulturerbe-Fälle spezialisiert. Vor fast zwei Jahren hatte die Ständige Vertretung Reza mit der Rückforderung einer Skulptur beauftragt, die vor hundert Jahren angeblich illegal aus dem Iran ausgeführt worden war. Derzeit befand sich die Skulptur im Besitz des Metropolitan Museums of Art. Der Anwalt hatte den Fall erst angenommen, als Taghinia ihm mehr als ein großzügiges Honorar versprochen hatte. Auch die noch in Teheran lebenden Familienmitglieder Rezas würden gut versorgt werden.
Hätte Samimi auch nur ein bisschen Respekt vor Taghinia gehabt, dann wäre er beeindruckt gewesen von der cleveren Verhandlungsstrategie seines Bosses. Aber was als großzügiger Bonus daherkam, war eine kaum verhüllte Drohung. Und das machte Samimi nur
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