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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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das, was er jetzt tun musste. Sicher waren die Summen nicht vernachlässigenswert, aber er hatte für alle Bilder zusammen weniger bezahlt, als jedes Einzelne wert war. Es war nicht einfach, einen Käufer für gestohlene Kunstwerke zu finden. Keines erzielte auch nur annähernd den offiziellen Marktpreis. Der Renoir war acht Millionen wert, doch er hatte nur eine gezahlt. Mit einer legalen Herkunft hätte der Matisse fünfunddreißig Millionen gebracht, aber er hatte nur zweieinhalb auf den Tisch gelegt.
    Welchen also? Welchen sollte er nehmen? Der Van Gogh war das Wertvollste der fünf Gemälde. Den würde er ihnen vor die Nase halten wie eine Karotte. Den Klimt würde er am ehesten verschmerzen können.
    Schon seit einem Monat lag eine Einkaufstüte von Williams-Sonoma in einer Ecke des Tresorraums. Darin befand sich ein einziger Gegenstand, ein Shun Kaji, ein Schälmesser, das er für 134,95 Dollar in bar erstanden hatte. Es war so weit. Sollte er den Monet nehmen – oder den Matisse?
    Shabaz trat zu dem Monet, dann zu dem Matisse. In dennächsten neunzig Sekunden schritt er langsam immer wieder von einem zum anderen Gemälde.
    Schließlich traf er eine Entscheidung. Die Messerspitze war nur noch wenige Zentimeter von der Leinwand entfernt, da bemerkte Shabaz, wie sich die ruhigen Blau- und Grüntöne auf der Klinge spiegelten. Wie um alles in der Welt konnte er das tun? Sogar die Reflexion des Bildes war ein Meisterwerk.

5. KAPITEL
    Er sah alle diese Gestalten und Gesichter in tausend Beziehungen zueinander, jede war ein Sterbenwollen, ein leidenschaftlich schmerzliches Bekenntnis der Vergänglichkeit, und keine starb doch, jede verwandelte sich nur, wurde stets neu geboren, bekam stets ein neues Gesicht, ohne dass doch zwischen einem und dem anderen Gesicht Zeit gelegen wäre …
    – Hermann Hesse, „Siddhartha“ –
    Lucian riss das Blatt Papier vom Block. Es war noch nicht auf dem Boden bei all den anderen zerknüllten Zeichnungen gelandet, da bewegte er den Stift schon über ein neues Blatt, elegant und sicher, mit präzisen, unaufwendigen Bewegungen. Ein menschliches Gesicht entstand, das aus dem Papier zu ihm hochsah. In den Augen der Frau lag Todesangst. In weniger als fünfzehn Minuten hatte er die Fremde zum Leben erweckt, und obwohl das Porträt überdurchschnittlich gut war, genügte es seinen Ansprüchen nicht. Wieder riss er das Papier ab und begann von Neuem zu zeichnen.
    Es war eine Stunde vor Morgendämmern, und um diese Zeit war New York noch still wie ein Grab – besonders in Manhattan, wo er in einer alten ausgebauten Fabrik in der Sullivan Street wohnte. In der weiträumigen Fabriketage gab es einen abgetrennten Schlafraum mit Bad, doch sonst war alles offen. Die überdimensionierten Fenster gingen nach Norden, wo sie den Blick auf ein schmales Stück der New Yorker Skyline eröffneten. Ein wundervoller Anblick, wenn man sich auf die abstrakten Formen einließ. Nichts deutete auf die Gefahren hin, die hier immer drohen konnten.
    Er hörte auf zu zeichnen, hob den Kopf und lauschte. Ein Wagen fuhr mit dröhnendem Motor die Straße hinunter. Seltsam, wie ein solch normales Geräusch so unheimlich klingenkonnte. Es war die Stunde, wenn sogar jemand Erscheinungen für möglich hielt, der noch nie an Geister geglaubt hatte. Oder an ein Leben nach dem Tod. Oder an Gott. Oder überhaupt an irgendetwas, das er nicht beweisen konnte. Lucian war ein Anhänger des logischen Denkens, er glaubte an Kraft und Gegenkraft, an das Prinzip der Wechselwirkung. Er war davon überzeugt gewesen, dass es nichts brachte, in der Vergangenheit herumzuwühlen, doch nach den Ereignissen bei der Gesellschaft der Memoristen dachte er anders darüber. Zwei Wochen war es her, seit ein immer noch unbekannter Angreifer den geheimen Eingang in die Bibliothek gefunden und sich dort versteckt hatte, bis Dr. Erika Aldermann Lucian die Liste der Erinnerungswerkzeuge gab.
    Die Liste war verschwunden, Dr. Aldermann hatte ihre schweren Verletzungen nicht überlebt. Eine Woche lang hatte Lucian mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus gelegen, die sich in Schwindel und ständigen Kopfschmerzen niederschlug. Die Symptome, die die Ärzte am meisten gefürchtet hatten, zeigten sich allerdings nicht: Er hatte keinen Gedächtnisverlust, keine Muskelschwäche oder Lähmungserscheinungen – jedes dieser Symptome hätte ein Hinweis auf einen progressiven Gehirnschaden sein können. Die Ärzte entließen ihn mit starken

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