Der Visionist
Teil des ursprünglichen Hauses aus dem 18. Jahrhundert war, führte von dort hoch zu einem geheimen Eingang in die Bibliothek. Die Polizei hatte nachweisen können, dass der Angreifer so in die Bibliothek gelangt war und sie auch auf diesem Weg wieder verlassen hatte. Während Lucian malte, ging er immer wieder dieselben Fragen durch; seit er im Krankenhaus das Bewusstsein wiedererlangt hatte, gingen sie ihm nicht mehr aus dem Kopf: Wer hatte ihn niedergeschlagen? War es ein Mitglied der Memoristen gewesen? Jemand, der im Dienst von Malachai Samuels stand? Oder jemand, der für Dr. Aldermann gearbeitet hatte? War die neue Vorsitzende der Gesellschaft vielleicht einer Intrige zum Opfer gefallen, die sie selbst angezettelt hatte?
Er riss das Papier von dem Block, warf es zu den anderen auf den Boden und begann wieder von vorn. Vielleicht schaffte er es diesmal, den Gesichtsausdruck der Frau aufs Papier zu bringen. Vor seinem geistigen Auge konnte er sie so deutlich sehen.
Nach Solanges Tod hatte Lucian mit dem Malen aufgehört und die Kunstakademie abgebrochen. Doch er hatte nie aufgehört zu zeichnen. Als FBI-Agent skizzierte er Verdächtige, wann immer andere Agenten sich Notizen machten. Aber dies hier war etwas anderes. Seit dem Angriff hatte er ein Gefühl, als müsse er diese Gesichter zeichnen, als treibe ihn etwas dazu an.
Zurück in New York hatte er einen Neurologen aufgesucht, der sich seine Röntgenaufnahme anschaute. Er kam zum gleichen Ergebnis wie die Ärzte in Wien: Die Verletzung war nicht lebensbedrohend gewesen, und Lucian würde sich vollends erholen, die Kopfschmerzen würden sich nach und nach legen. Die frühmorgendlichen Zeichensitzungen hielt der Neurologe nicht für eine Folge der Verletzung. Allerdings war ihm ein solches Symptom noch nie untergekommen, und erversprach, dazu zu recherchieren. Falls er auf ähnliche Fälle stieß, wollte er Lucian Bescheid geben. Wegen seiner Krankengeschichte riet er Lucian, zusätzlich einen Psychologen hinzuzuziehen. Vielleicht sei das zwanghafte Zeichnen Ausdruck eines posttraumatischen Stress-Syndroms. Nach zwei gewalttätigen Angriffen sei dies keine Seltenheit. Lucian hatte sich nie bei einem Psychologen gemeldet.
Das Gesicht der Frau, die jetzt zu ihm aufschaute, war von Furcht erfüllt. Aber es war immer noch nicht das, was er in seinem Kopf sah. Zehn, vielleicht auch zwanzig Mal hatte er es schon versucht – Lucian zählte schon lange nicht mehr. All den Skizzen, die er vor dem Morgengrauen zeichnete, fehlte etwas, eine Eigenschaft, die er nicht benennen und offenbar auch nicht malen konnte. Dabei malte er diese Frauen nicht aus der Erinnerung. Wie konnte er so genau wissen, dass etwas fehlte? Er hatte diese Frau jetzt und auch keine der anderen jemals gesehen. Woher kam dieses Gefühl, als hätte er Monate damit verbracht, sie sich anzusehen?
Lucian war nie jemand gewesen, der unter Angstzuständen litt. Doch seit seiner Rückkehr aus Österreich wachte er oft schweißgebadet und mit wild klopfendem Herzen auf. Eine namenlose Furcht ergriff ihn dann, und sein nackter Körper kam ihm neu vor, als spüre er ihn zum ersten Mal und müsse genau nachfühlen, wo die Beine, die Hüften, seine Schultern und sein Rückgrat das Laken berührten. Es war ein Gefühl, als wäre er im Schlaf von seinem Körper getrennt worden, als hätte er ihn zurückgelassen und wäre erst beim Aufwachen wieder in ihn eingetaucht. Mit Erleichterung spürte er dann die geschmeidigen Muskeln unter seinen Fingern. Er versuchte, wieder einzuschlafen, aber das Bedürfnis zu zeichnen war zu stark, auch wenn es unlogisch und unvernünftig war. Er konnte sich ihm nicht entziehen, und deshalb gab er nach.
Aber es war nicht wirklich ein Nachgeben. Immer mehr wurde ihm das wilde Zeichnen frühmorgens ein Bedürfnis, sowie andere Leute ein Bedürfnis nach Sex hatten. Es war ihm bewusst, dass egal, wie viele Gesichter er malte, dieses manische Zeichnen nie in irgendeiner ekstatischen Erfüllung enden würde. Dennoch war er abhängig davon. Wenn ihn die Albträume aus dem Schlaf rissen, konnte er sich nie an Einzelheiten erinnern. Doch die Gesichter der Frauen, die er in diesen Träumen sah, blieben bei ihm. Ihre Augen waren voller Wut, Trauer oder Furcht, und er quälte sich die ganze Zeit, während er ihren Schmerz zu Papier brachte. Es war, als würde er seine eigenen dunklen Seiten offenlegen, wenn er die dunklen Seiten dieser verlorenen Seelen offenbarte. Er hatte es schon lange
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