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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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Zwar blühten dort Handel und Handwerk, mit ihnen aber auch Habgier und Hoffart nebst Armut und bitterer Not. Jetzt kleidete sich der Kaufmann in kostbare Pelze und putzten sich reiche Bürger mit bunten Tuchen wie Pfauen heraus, während sich mancher Adelige unter dem löchrigen Dach seiner kalten Burg in einen schäbigen Mantel hüllte. Der freie Geist an den Schulen und Universitäten Frankreichs, Spaniens und Italiens gebar bislang unerhörte Ideen und säte vielerorts Zweifel. Obwohl tausendfach abgeschlagen oder von läuterndem Feuer vernichtet, erwuchsen der Hydra der Ketzerei unaufhörlich neue Häupter. Und wo schon der Heilige Vater der Zauberei bezichtigt wurde, da wollte auch der gemeine Mann seine Furcht vor Dämonen und seinen Aberglauben nähren. Daneben gab es freilich auch tiefe Frömmigkeit und inbrünstiges Beten, die ihren schönsten und sichtbaren Ausdruck in den hochragenden und lichtdurchfluteten Kathedralen fanden. Aber war dieser neue, so schwerelos erscheinende und in die Ewigkeit weisende Baustil nicht zugleich auch Zeichen einer ganz dem Irdischen verhafteten Maßlosigkeit, wie der Einsturz der Kathedrale von Beauvais und die vielerorts stockende Bautätigkeit befürchten ließen? Und Maßlosigkeit war auch – in krassem Gegensatz zur Armut seines göttlichen Herrn und Meisters – die hervorstechendste Tugend des geistlichen Führers der Christenheit. In einem Alter, in dem der Fromme gemeinhin nur noch in der hoffnungsvollen Erwartung lebt, seinen Herrn und gnädigen Richter bald von Angesicht zu Angesicht zu schauen – in einem Alter von gut siebzig Jahren also –, da hatte der Bischof von Cahors eben erst den Stuhl Petri als Papst Johannes XXII. bestiegen. Und zählten Hochmut und Habgier in den Augen der Kirche zu den größten Lastern, so wußte Johannes diese Tugenden des Teufels aufs schönste in sich zu vereinen. Er war arrogant und unerschütterlich in seinem absoluten Herrschaftsanspruch über den römisch-deutschen König beziehungsweise Kaiser als den Schutzherrn des Reiches und Träger des weltlichen Schwertes. Und er war geldgierig und korrupt bis auf die Knochen und besaß ganz offenbar die Gabe des Midas, denn er wußte selbst Dreck noch zu versilbern. Daneben wähnte sich der Hüter des wahren Glaubens zeitlebens von Magiern und Dämonen umgeben, und er ließ alle, die er des Bildzaubers für schuldig hielt, hinrichten.
    Im Buche Genesis steht geschrieben, daß vor Zeiten der Herr sah, wie groß die Bosheit der Menschen war, und er sandte eine gewaltige Flut, um sie mitsamt der Erde zu vernichten. Als sei der Herr in diesen Tagen aufs neue der Ruchlosigkeit der Menschen und insbesondere seiner gesalbten Diener überdrüssig, hatte er es in den Sommern der vergangenen drei Jahre nahezu unaufhörlich regnen lassen, so daß die Ernte vernichtet worden war und die Menschen vielerorts schrecklichen Hunger litten und wie die Fliegen starben. Und es ging das Gerücht von blutigem Regen und hellen Schweifsternen. Wer nur recht die Zeichen zu deuten wußte, sah Joachim von Fiore bestätigt, der das Nahen der Endzeit angekündigt hatte, in der der siebenköpfige Drache sein Haupt erheben und die Herrschaft des Antichrist beginnen werde.
    Angesichts der Schrecken der Zeit, in der von den Paulinischen Tugenden der Glaube durch Zweifel ersetzt und die Liebe der Habsucht gewichen war, da blieb den Menschen nur noch wenig Hoffnung: Hoffnung auf ein Plätzchen am Tisch des Herrn in der Ewigkeit und Hoffnung auf Frieden und das täglich Brot, solange der mühselige Kampf im Diesseits währte. Doch danach sah es in diesem Jahr 1319 am allerwenigsten aus. Es roch vielmehr penetrant nach Krieg, und wie meistens, ging es bei den Streitigkeiten um Besitz, Ansehen und Macht.
    Im fünften Jahr schon wogte der Kampf um die Krone des römisch-deutschen Königs unentschieden hin und her zwischen den stolzen Habsburgern aus Österreich und dem Hause Wittelsbach, das zudem durch einen unseligen Bruderzwist zerrissen war. Als nämlich 1294 der Bayernherzog Ludwig der Strenge – ein merkwürdiger Beiname für die Ermordung seiner ersten Gattin in eifersüchtiger Raserei – von seiner Residenz zu Heidelberg ins reinigende Fegefeuer übersiedelte, da hinterließ er nebst zwei Töchtern den älteren Sohn Rudolf und dessen minderjährigen Bruder Ludwig sowie die lebenslustige Witwe Mechthild aus dem Hause Habsburg, die mit ihren vierzig Jahren noch keineswegs gewillt war, sich am Stickrahmen vom

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