Der Wächter
…«
»Wer erzählt die Geschichte nun eigentlich?«, knurrte Hokenberry. »Sie oder ich?«
»Sie natürlich. Es ist Ihre Geschichte. Ich finde sie großartig.«
Um seiner Verärgerung über die vielen Unterbrechungen Ausdruck zu verleihen, spuckte Hokenberry auf den Teppich. »Und dann steht da dieses Bürschchen mit blauen Haaren und macht sich bereit, auf die Bühne zu klettern, um Peaches and Herb um den Hals zu fallen …«
»Oder dem Captain.«
»Oder Tennille. Ich brülle ihn an, marschiere auf ihn zu, und da zeigt mir der kleine Scheißer den Stinkefinger, was mir absolut das Recht gibt, ihm eins auf die Schnauze zu geben.« Hokenberry hob eine Faust, die so groß war wie ein Schinken. »Ich hab ihm Bullwinkle bis zum Anschlag ins Gesicht gerammt.«
»Sie nennen Ihre rechte Faust nach Bullwinkle, dem Comic-Elch.«
»Ja, und meine linke heißt Rocky nach seinem Kompagnon, dem Eichhörnchen. Rocky hab ich gar nicht mehr gebraucht, weil Bullwinkle ihn so hart erwischt hat, dass dem Bürschchen ein Auge rausgesprungen ist. Ich bin ganz schön erschrocken, hab das Ding aber trotzdem in der Luft aufgefangen. ’n Glasauge. Der Bursche ist bewusstlos umgekippt, und ich hab das Auge behalten und zu dem Anhänger da machen lassen.«
»Ein toller Anhänger.«
»Glasaugen sind gar nicht aus echtem Glas, wussten Sie das? Es sind dünne Plastikkugeln, und die Iris wird von Hand auf die Innenseite gemalt. Total abgefahren.«
»Total«, pflichtete Corky bei.
»’n Freund von mir, der Schmuck macht, hat mir die kleine Glaskugel da für das Auge gebastelt, damit es nicht kaputtgeht. So, das war die Geschichte. Jetzt aber her mit meinen zwanzig Riesen!«
Corky reichte ihm das in einem kleinen Plastikbeutel steckende Geldbündel.
Genau wie bei den zwanzigtausend, die Hokenberry bei der ersten von drei früheren Zusammenkünften erhalten hatte, wandte er sich ab und trug das Bündel zu dem Tisch in der Essecke, um die frischen Hundertdollarnoten einzeln zu zählen.
Corky schoss ihm dreimal in den Rücken.
Als Hokenberry auf den Boden krachte, bebte der Bungalow.
Der Sturz des Kolosses war wesentlich lauter als die Schüsse, da die Pistole mit einem Schalldämpfer ausgerüstet war, den Corky von einem radikalen Öko-Anarchisten erworben hatte. Bei jedem Schuss entstand ein leises Geräusch, das so klang, als ob jemand lispelnd das Wort Schuppe aussprach.
Es war die Waffe, mit der Corky damals Rolf Reynerds Mutter in den Fuß geschossen hatte.
Angesichts von Hokenberrys imposanter Größe hatte Corky sich lieber nicht auf den Eispickel verlassen wollen.
Er ging auf den gefallenen Gorilla zu und jagte ihm drei weitere Kugeln in den Leib, um sicherzugehen, dass Rocky und Bullwinkle keinen Punch mehr hatten.
52
Durch die zwei Fenster sah man einen flüssigen Himmel und eine Stadt, die sich in Tröpfeln, Nieseln und Dunst auflöste. Die großen Archivräume des Krankenhauses wurden durch hohe Aktenschränke in enge Korridore unterteilt. An den Fenstern befand sich ein offener Bereich mit vier Workstations, die momentan zur Hälfte belegt waren.
Dr. O’Brien setzte sich an einen der freien Arbeitsplätze und schaltete den Computer ein; Ethan zog einen Stuhl heran und ließ sich neben dem Doktor nieder.
»Vor drei Tagen hat Mr. Whistler Atemprobleme bekommen«, sagte der Arzt, während er eine DVD ins Laufwerk legte. »Er musste an ein Beatmungsgerät angeschlossen und auf die Intensivstation verlegt werden.«
Auf dem Bildschirm erschien der Name WHISTLER, DUNCAN EUGENE samt Dunnys Patientennummer und anderen wichtigen Informationen, die bei der Aufnahme verzeichnet worden waren.
»Während er sich auf der Intensivstation befand«, fuhr Dr. O’Brien fort, »wurden Atmung, Herzschlag und Hirnfunktion kontinuierlich überwacht und telemetrisch zur Zentrale der Intensivstation übermittelt. Das machen wir schon immer so.« Mit der Maus klickte der Arzt eine Reihe von Icons und nummerierten Menüpunkten an. »Der Rest ist relativ neu. Das System speichert digital sämtliche Daten, die während des Aufenthalts eines Patienten auf der Intensivstation von den Überwachungsgeräten aufgezeichnet werden. Zur späteren Überprüfung.«
Ethan ging durch den Kopf, dass man die Daten wohl vor allem als Beweismittel aufbewahrte, um sich gegen schikanöse Schadenersatzklagen abzusichern.
»Hier haben wir Whistlers EEG, als er am vergangenen Freitag um vier Uhr zwanzig auf die Intensivstation verlegt wurde.«
Ein
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