Der Wächter
spricht da?«
»Bloß ein alter, mittelloser Cop, der um eine milde Spende bittet. Hör mal, hast du schon ein Buch gefunden?«
»Noch nicht.«
»Beeil dich!«
»Bin gleich fertig«, sagte Fric.
Als Ethan die Sprechanlage wieder ausschaltete, blinkte ein Lämpchen auf und blieb an: Anschluss Nummer 24.
Ethan betrachtete die Gegenstände, die er zwischen dem Computer und dem Telefon aufgereiht hatte. Maikäfer, Schnecken, Vorhäute …
Sein Blick fiel wieder aufs Telefon. Das Lämpchen.
Anschluss 24.
Die kaum verständliche Stimme von der anderen Seite des Mondes, der er am Vorabend an diesem Telefon eine halbe Stunde lang gelauscht hatte, hatte seither ständig in seinem Herzen widergehallt. Genauso wie die leise Stimme, die am Morgen aus dem musiklosen Lautsprecher im Krankenhausaufzug gedrungen war.
Eine Keksdose voller Scrabblesteinchen, das Buch mit dem Titel Helfende Pfoten , der zugenähte Apfel mit dem Auge im Kerngehäuse.
Im Aufzug hatte er auf NOTHALT gedrückt, nicht nur, um der Stimme länger lauschen zu können, sondern auch, weil er Angst gehabt hatte, beim Erreichen der Tiefgarage statt einer Garage nur schwappendes schwarzes Wasser oder einen Abgrund vor sich zu sehen.
In jenem Augenblick hatte er gespürt, dass seine absurde Reaktion nur der Ausdruck einer realistischeren Angst war, der er nicht ins Auge blicken wollte. Jetzt stand er kurz davor, den wahren Schrecken zu begreifen.
Mit einem Mal wusste er, dass die Welt, wie er sie wahrnahm, nur ein farbiges, von den Spiegeln eines Kaleidoskops gebrochenes Glasbild war. Die Struktur der Wirklichkeit, die er sein ganzes Leben lang gesehen hatte, würde sich gleich vor seinen Augen verändern, sich in etwas verwandeln, was wesentlich verwirrender und furchterregender war als vorher.
Maikäfer, Schnecken, Vorhäute …
Das Lämpchen von Anschluss 24.
In seiner Erinnerung hallte die ferne Stimme wie die melancholischen Schreie von Möwen im Nebel wider: Ethan , Ethan …
Anrufe von den Toten.
Maikäfer, Schnecken, Vorhäute …
Das Lämpchen sah wie eine Miniaturversion der Lichtkuppel hoch oben auf dem Krankenhaus aus. Es war der letzte Anschluss auf der Tastatur des Telefons, das letzte Licht, die letzte Chance, die letzte Hoffnung.
Rosenduft schwebte durch den Raum. Nur gab es in der Wohnung keine Rosen.
Ein Bild kam Ethan in den Sinn: die langstieligen Rosen auf Hannahs Grab, rotgolden auf dem nassen Gras.
Der Rosenduft wurde immer intensiver. Er war wirklich, nicht imaginär, und sogar stärker als im Blumenladen.
Das Kribbeln, das über Ethans Nacken und Kopfhaut schlich, war weniger ein Ausdruck von gewöhnlicher Angst als von demütiger Ehrfurcht. Hinzu kam ein kühles Zittern in der Magengrube.
Er hatte keinen Schlüssel für das verbotene Zimmer hinter der blauen Tür, wo die Anrufe für Anschluss 24 aufgezeichnet wurden. Plötzlich war er aber in einem Gemütszustand, in dem Schlüssel nicht mehr wichtig waren.
Mit einem intuitiven Gefühl der Dringlichkeit, dem er vertraute, ohne es erklären zu können, rannte Ethan aus seiner Wohnung zur Hintertreppe und dort hinauf in den zweiten Stock.
83
Zwei leise ächzende Seile fesselten das Luftschiff an die stämmigen Äste zweier alter Korallenbäume, mit einem dritten straffen Seil war die Nase am Lastwagen gesichert. Wie ein Fisch am Angelhaken schien der pralle Leib sich danach zu sehnen, wieder in die Tiefen des Himmels einzutauchen.
Verglichen mit den von Goodyear hergestellten Blimps war dieses Fahrzeug mit seinen etwa neun Metern Länge und drei bis vier Metern Durchmesser geradezu ein Winzling. Dennoch kam es Corky wie ein riesiger grauer Wal vor.
Von unten von zwei Gaslaternen angestrahlt, bei deren Licht Trotter und seine Helfer gearbeitet hatten, schwebte das Ungetüm in der Luft. Silbern flimmernder Regen strömte von den rundlichen Flanken herab. Vielleicht wirkte es ja imposanter, als seine Größe vermuten ließ, weil ein Luftschiff hier in Bel Air im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums fehl am Platze und unzeitgemäß wirkte.
Abgesehen davon, dass Jack Trotter ein Paranoiker, ein fanatischer Anhänger von Verschwörungstheorien und ein in mehrfacher Weise gefährlicher Spinner war, liebte er Heißluftballons. Nur in der Luft, wenn er mit dem Wind dahinschwebte, fand er inneren Frieden. Solange er dort oben war, konnten die Schergen des Bösen ihn nicht ergreifen, um ihn in eine dumpfige Zelle zu werfen, in der es außer dem roten Glühen von
Weitere Kostenlose Bücher