Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
als wenigstens den Verdacht der Undankbarkeit zu zerstreuen. Dies sollte sich als klug erweisen, doch konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass er die Hilfe des Grafen noch einmal benötigen würde (und bekommen wird): bei der Rückkehr an die Leipziger Universität fünf Jahre später. Weitere fünf Jahre später, beim gelingenden Abschluss des zweiten Studiums, bezeichnet er den Abbruch des ersten in einem akademischen Lebenslauf als »übereilten Entschluss«. Dem entspricht die Bemerkung, die Seume gleich zu Beginn seines Schreiben aus America macht:
»Welcher Cacodämon mir ins Gehirn fuhr und mich von Leipzig wegjagte, kann ich mir bis diese Stunde nicht entziffern. So viel weiß ich wohl, dass ich ein Narr war; und doch wird mirs äußerst schwer, diese Narrheit zu bekennen, oder nur zu bereuen.«
Dieser Text wurde 1789 veröffentlicht, zu Beginn des zweiten, erneut von Graf Hohenthal geförderten Studiums in Leipzig. Im Mai 1782 konnte es indessen nur darum gehen, vor dem Förderer die Ehre zu verteidigen, die im Dank des Geförderten lag:
»Wie lange habe ich gekämpft, ehe ich mich entschlossen Ihnen zu schreiben! Zehnmal machte ich Entwürfe, und stieß sie wieder um; zehnmal ergriff ich die Feder, und legte sie zurück: Aber Stillschweigen schien mir meine Undankbarkeit zu vermehren; also habe ich es gewagt, meine jetzigen Umstände zu melden. Ich bin jetzo hessischer Soldat, und ziehe in den Krieg nach Amerika.«
Der desertierte Soldat
Der Bauernjunge ging zur Schule und wurde Student in Leipzig, der Student entlief der Universität und wurde Soldat in Halifax. Ein Jahr nach der Anwerbung in Vacha (Seume schreibt Vach) in der Rhön und der anschließenden Ausbildung in der hessischen Festung Ziegenhayn begann in Bremen die Fahrt über den Ozean.
Doch wie kam es überhaupt zur Anwerbung? War nackte Gewalt oder rohe Erpressung im Spiel? Mit einem gewöhnlichen, sich vom Bauernhof ins Wirtshaus an der Landstraße verirrten jungen Mann wurden die Werber im Handumdrehen fertig, nicht nur die hessisch landgräflichen, sondern auch die königlich preußischen. Großzügig eingeschenkter Wein und ein vorgezeigtes Geldstück konnten genügen, einen solchen Bauernjungen zu veranlassen, die Unterjochung auf dem Gutshof mit der Disziplin bei der Armee zu tauschen. Geprügelt wurde da wie dort, und den Stock führten die Herren von Adel als Gutsbesitzer wie als Offiziere.
Als Seume auf die hessischen Werber traf, war er jedoch kein Bauernbengel mehr, sondern Student. Und anders als die jungen Männer seiner Herkunft, die selten oder nie ein Geldstück zwischen den Fingern drehten, hatte er in Leipzig gelernt, mit Barem zu wirtschaften und führte eine Börse mit sich: immerhin neun Taler!
Betrunken gemacht und gekauft haben werden ihn die hessischen Werber also nicht. Dass sie ihn mit Gewalt verschleppten, ist wenig wahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, schließlich bewegten sie sich auf landesherrlichem Territorium. Das erlaubte mehr ›Freiheiten‹ bei der Freiheitsberaubung, obwohl man wie die preußischen Werber nicht davor zurückschreckte, auch auf fremdem Gebiet zu ›wildern‹. Wirklich handgreifliche Entführungen vermied man jedoch auf heimischem wie auf fremdem Terrain.
Während Seume in seiner Autobiographie nicht davon erzählt, wie er als Soldat geworben wurde, erzählt Karl Philipp Moritz in seinem autobiographischen Roman Anton Reiser , wie er nicht als Soldat geworben wurde. Moritz wanderte im Sommer 1776 von Hannover nach Erfurt und musste sich in einem Gasthaus in der Nähe des thüringischen Mühlhausen gegen einen Werber wehren. Anton Reiser wird gewarnt, »sich vor den Kaiserlichen und Preußischen Werbern in diesen Gegenden in acht zu nehmen, und sich durch keine Drohungen schrecken zu lassen, wenn sie etwa äußerten, dass sie ihn mit Gewalt nehmen wollten«.
Direkte Gewalt musste Reiser also nicht fürchten, wohl aber einschüchternde Avancen: »Nun kam schon in aller Frühe ein Kaiserlicher Unteroffizier in die Gaststube […], der sich mit seinem Krug Bier ganz vertraulich neben Reisern an den Tisch setzte, und vom Soldatenleben erst von weitem mit ihm zu sprechen anfing, bis er nach und nach immer zudringlicher wurde, und ihm endlich geradezu versicherte, dass er doch vor den Preußischen und Kaiserlichen Werbern nicht über Mühlhausen kommen würde, und sich also lieber nur gleich von ihm für sieben Gulden Handgeld anwerben lassen möchte.«
Zwischen Preußen auf
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