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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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wollte, ist kaum glaubhaft. Und doch wird es so von Seume geschildert. Vielleicht erhofften sich die Haudegen Informationen von Seume, der als ›Studierter‹ in der Festung als Schreiber beschäftigt war. Vermutlich jedoch übertrieb – oder erfand – Seume seine Rolle bei dem Ausbruch, um die publikumswirksame Geschichte erzählen zu können, wie ein alter, kampferprobter Feldwebel den jungen, unerfahrenen Schreibtischtäter vor einer lebensgefährlichen Dummheit bewahrt:
»Junger Mensch, sagte er, Sie eilen in Ihr Verderben unvermeidlich, wenn Sie den Antrag annehmen. Selten geht eine solche Unternehmung glücklich durch; der Zufälle sie scheitern zu machen sind zu viele. […] Sie scheinen gut und rechtschaffen; und ich liebe Sie wie ein Vater. Lassen Sie meinen Rat etwas gelten.«
    Der Feldwebel, mag er nun halb oder ganz erfunden sein, figuriert in Seumes Leben als einer der vielen ›Väter‹, die Seume im Leben zu gewinnen wusste. Er berichtet, dass er den ›väterlichen‹ Rat annimmt, die verführerische Führerschaft ablehnt und sich an der Flucht nicht beteiligt. Tatsächlich scheitert der Ausbruch durch einen Verrat:
»Der Prozess ging an; zwei wurden zum Galgen verurteilt, worunter ich unfehlbar gewesen sein würde, hätte mich nicht der alte Preußische Feldwebel gerettet. Die Übrigen mussten in großer Anzahl Gassen laufen, von sechs und dreißig Malen herab bis zu zwölfen. Es war eine grelle Fleischerei.«
    Das Gassenlaufen ist in literarischen Lebenserinnerungen immer wieder beschrieben worden, beispielsweise in der hinreißenden Autobiographie Ulrich Bräkers, die 1789 unter dem Titel Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg erschien. Der Schweizer Bräker war in seiner Jugend von preußischen Werbern zwangsrekrutiert worden und kommt bei seiner Beschreibung Berlins auch auf die Desertionsstrafe zu sprechen: »Bald alle Wochen hörten wir […] neue ängstigende Geschichten von eingebrachten Deserteurs […] Da mussten wir zusehen, wie man sie durch 200 Mann achtmal die lange Gasse auf und ab Spießruten laufen ließ, bis sie atemlos hinsanken – und des folgenden Tags aufs neue dran mussten, die Kleider ihnen vom zerhackten Rücken heruntergerissen und wieder frisch drauflosgehauen wurde, bis Fetzen geronnenen Bluts über die Hosen hinabhingen.«
    Schon vor dem Ausbruchsversuch von Seumes Kameraden in Ziegenhayn war es in Cuxhaven auf Söldnerschiffen zu Meutereien gekommen. Auch diese Männer hatte der hessische Landgraf an England für den Krieg in Übersee verkauft. Die Revolten wurden niedergeschlagen, und die Rädelsführer, oder die man dafür hielt, erbarmungslos abgestraft. Johann Christoph Sachse berichtet in seiner Lebensgeschichte darüber. Doch ist sie unter dem Titel Der deutsche Gil Blas erst 1822 von Goethe herausgegeben worden. Seume kann sie nicht gekannt haben. Übrigens macht Goethe einleitend in einer unnachahmlichen Mischung aus Verständnis und Herablassung eine Bemerkung, die Caroline Herder wohl vor den Kopf gestoßen hätte: »Selbst die oberen Stände werden nicht ohne Erbauung das Büchlein durchlesen, besonders wenn es ihnen auffällt: wie es wohl aussehen möchte, wenn ihre Bedienten auch dergleichen Bekenntnisse schrieben.«
    Bis diese für die »oberen Stände« eher unangenehme Vorstellung Wirklichkeit wurde und Dienstmädchen, Hausknechte und Fabrikarbeiter ihre Geschichten niederschrieben, hat es noch einige Generationen gedauert. Ein Klassiker dieser Gattung, falls man in Gegenwart Goethes einen dieser Texte so bezeichnen kann, ist die Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters von Moritz Theodor William Bromme. Der früh invalidisierte Bromme schrieb sie 1903 mit Anfang dreißig in einer Lungenheilanstalt in der Nähe von – Weimar.
    Ob Seume tatsächlich zum Zeugen von Gassenläufen nach dem Scheitern des Ausbruchs wurde, ist unklar, denn die historische Wahrheit, ob es zu dieser Art der Verurteilung überhaupt gekommen ist, bleibt einstweilen im Dunkel der Archive. Als Seume diese Erinnerung beschrieb, dürfte ihm vor Augen gestanden haben, was er zum Zeitpunkt des Erlebens nicht ahnen konnte: dass er während seiner auf den hessischen Dienst folgenden Jahre beim preußischen Militär selbst zum Gassenlaufen verurteilt werden und der Vollstreckung nur durch Begnadigung entgehen sollte.
    Darauf hinzuweisen ist wichtig, denn beim Erzählen eines Lebens fallen die Steine seines Kaleidoskops in andere Muster als

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