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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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während des Erlebens selbst. Die Frage, ob diesen Mustern beim Erzählen ein Sinn nachträglich (und buchstäblich) zugeschrieben wird, den das Leben gar nicht hatte, wird immer wieder zu stellen sein: um zu verstehen, nicht etwa, um zu ›entlarven‹ oder bloßzustellen.
    Das Gassenlaufen ist die militärische Form des seit alters überlieferten Spießrutenlaufs. Ursprünglich handelte es sich um ein Opfer- und Versöhnungsritual. Nach der Urteilsverkündung vor der Gruppe wurde der Missetäter in einen Kreis speertragender Männer gestoßen und dort im Wortsinn niedergemacht. Nach dem Tod des Verurteilten, der in eigentümlicher Umkehrung dadurch aus der sozialen Gemeinschaft ausgestoßen wurde, dass man ihn hineinstieß in die bewaffnete Gruppe, zog die gereinigte Gemeinde um den Leichnam. Bei dieser zeremoniell aufgeführten Ausstoßung wurde der Delinquent von allen gemeinsam gerichtet und von niemandem persönlich getötet.
    Bei der Militärstrafe des Gassenlaufens kehrte das alte Ritual als Instrument kalkulierter Demütigung wieder. An die Stelle der Spieße traten Ruten und Stöcke. Unter dem Kommando des Offiziers strafte der gemeine Soldat den gemeinen Soldaten. So wurde gleichzeitig der Wille der Schlagenden und der des Geschlagenen gebrochen. Die Soldaten, die in der Nacht von Desertion träumten, wurden tagsüber gezwungen, einem Kameraden, der den Traum zu verwirklichen versucht hatte, den Rücken zu zerfetzen. So prügelten die Strafenden die Freiheitssehnsucht aus den Leibern ihrer Kameraden und zugleich aus den eigenen Köpfen.
    Bald nach dem misslungenen Ausbruch der Rekruten erfolgte ihre Verschiffung nach Halifax. Auf Seumes Schilderung dieser Reise und seiner Abenteuer in Neuschottland kommt das nächste Kapitel zurück.
    Jetzt geht es um die Flucht, die Seume nach dem Rücktransport in Bremen gelang. Als zwei seiner Kameraden ohne ihn ausgerissen waren, versuchte er es auf eigene Faust, nicht zuletzt deshalb, weil das Gerücht ging, die aus Amerika zurückgekehrten Soldaten würden vom Landgraf an die Preußen verkauft:
»Das Gespenst der Preußen saß mir fest im Gehirn, ich hatte ganz gegen meine Gewohnheit ohne alle Absicht [gemeint sind vorgefasste Fluchtabsichten] in einigen Gläsern Wein mich etwas warm getrunken, und machte kurz und gut auf und davon, am Ufer hin, über die Brücke weg, in die Altstadt hinein. Ein guter alter ehrlicher Spießbürger mochte mir doch wohl einige Verwirrung ansehen; er kam freundlich zu mir und fragte: ›Freund! Ihr seid wohl ein Hessischer Deserteur?‹ Und wenn ich denn einer wäre? sagte ich: Da muß ich Euch sagen, unser Magistrat hat Kartel mit dem Landgrafen. Und nun –«
    »Und nun – das sind die letzten Worte, welche Seume geschrieben hat«: Das sind die ersten Worte, die seine Fortsetzer Göschen und Clodius geschrieben haben. Dann erzählen sie, wie Seume erst von Bremer Bürgern gerettet und aus der Stadt bugsiert wird, dann aber denen in die Hände fällt, an die er von den Hessen auf keinen Fall verkauft werden wollte: den Preußen.
    Allerdings stimmt an der ganzen Geschichte etwas nicht. Der von Seume angedeutete Fluchtweg ist so wenig nachvollziehbar wie die von Göschen und Clodius beschriebene Bremer Heldentat. Um das herauszufinden, muss man nur mit der Linie 1, der Bremer Linie 1, zur Haltestelle Franziuseck fahren. Ebendas hat Karl Wolfgang Biehusen, seit Jahren engagierter Betreiber der Seume-Website, getan: »Wer hier aussteigt, befindet sich auf einer Halbinsel – und findet rasch ein Denkmal für Johann Gottfried Seume. Auf der Vorderseite der Stele kann man den ›Deserteur‹ auf einer Plakette westwärts, also zur Neustadt, schauen sehen. Auf der Rückseite ist vermerkt: ›1783 wurde der Dichter auf seiner Flucht von Bremer Bürgern gerettet.‹«
    Nach der Straßenbahnfahrt in die Vergangenheit merkt Biehusen zur Darstellung in Mein Leben an: »So kann sich die Geschichte nicht ereignet haben.« Die Lage der Dinge passt nicht in die Topographie der Umgebung. Die Gewässer fließen nicht, wie sie fließen müssten, der Fluss Hunte wird mit dem Flüsschen Ochtum verwechselt, und überhaupt stimmt vieles weder mit Seumes Andeutungen überein noch mit den anekdotischen Ausschmückungen durch Göschen und Clodius: »Seume, ein trefflicher Läufer, flog wie ein Pfeil. Demungeachtet waren seine Verfolger, die Hessischen Jäger, ihm immer ganz nahe und trieben ihn endlich in einen Sack zwischen den beiden Flüssen der Hunte

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