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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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der einen und Österreich und den »Kaiserlichen« auf der anderen Seite schwelten seit Jahrzehnten Konflikte, die nach den Schlesischen Kriegen und dem Siebenjährigen Krieg im Juli 1778 den Bayerischen Erbfolgekrieg auslösten. Beide Seiten bemühten sich rechtzeitig darum, die Reihen zu füllen.
    Reiser konnte dennoch entkommen, auch weil er dem Werber glaubhaft machte, dass er nach Erfurt wollte, um zu studieren. Diese Karte hat Seume, der von Leipzig kam, um nicht mehr zu studieren, beim Pokern mit den Werbern gefehlt. Wie es im Einzelnen aber tatsächlich zuging, ist schwer einzuschätzen. Für die spätere Behauptung von Christian August Heinrich Clodius – er schrieb zusammen mit dem Verleger Georg Joachim Göschen Seumes Mein Leben zu Ende –, der entlaufene Student sei freiwillig Soldat geworden, weil man ihm eine Offizierskarriere versprochen habe, gibt es bei Seume keinen Hinweis. Nach der oben zitierten Bemerkung über den Kasseler »Menschenmäkler« folgt in Mein Leben der ebenfalls im Auszug zitierte Abschnitt über die Gründe und Nichtgründe seines Weggangs aus Leipzig. Danach kommt Seume auf seinen (wiederum schon zitierten) Brief an Hohenthal zu sprechen, bevor er das Thema seiner Rekrutierung zum Abschluss bringt:
»Man brachte mich als Halbarrestanten nach der Festung Ziegenhayn, wo der Jammergefährten aus allen Gegenden schon viele lagen […] Die Geschichte und Periode ist bekannt genug: niemand war damals vor den Handlangern des Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem verdammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriss man meine akademische Inskription als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muss man überall: wo so viele durchkommen, wirst du auch: über den Ozean zu schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug; und zu sehen gab es jenseits auch etwas. So dachte ich.«
    Im Spaziergang hatte Seume ebenfalls über die Episode geschrieben, veranlasst dadurch, dass er auf dem Rückweg von Sizilien einen Abstecher nach Paris machte und von dort nach Hause marschierend erneut in das Dorf in der Rhön kam. In seinem Reisebericht geht er über die persönlichen Umstände der Werbung mit der Bemerkung hinweg, es hätten ihn »Handlanger des alten Landgrafen in Beschlag genommen«, die sozialen Umstände werden jedoch etwas genauer geschildert:
»Es wäre unbegreiflich, wie der Landgraf seit langer Zeit so unerhört willkürlich, zum Verderben des Landes und einzig zum Vorteil seiner Kasse, mit seinen Leuten geschaltet und förmlich den Seelenverkäufer gemacht hat, wenn es nicht durch einen Blick ins Innere erklärt würde.«
    Der Adel, fährt Seume fort, war abhängig vom Hof, und alle, vom Minister bis hinab zum kleinen Offizier, hatten ihre Vorteile von diesem Geschäft, das auf dem Rücken der Landeskinder – und zulasten der Landwirtschaft – mit den Engländern gemacht wurde. Nach diesen Erwägungen leitet Seume die nächste Station seiner Reise mit dem lapidaren Satz ein:
»Von Vach wollte ich Post nach Schmalkalden zu meinem Freunde Münchhausen nehmen.«
    Seume hatte Karl Ludwig August Heyno von Münchhausen-Oldendorf in Halifax kennengelernt und seit der Rückschiffung nach Bremen nicht mehr gesehen. Die beiden standen nur brieflich in Kontakt. Es muss ein seltsames Gefühl gewesen sein, ausgerechnet von jenem Ort aus zu Münchhausen zu reisen, an dem er über zwei Jahrzehnte zuvor den Werbern in die Hände fiel, um nach Halifax verfrachtet zu werden. Doch äußert sich Seume über diese eigenartige Konstellation so wenig wie über die genauen Umstände seiner Anwerbung.
    In Mein Leben stellt er dafür einen Ausbruchsversuch aus der Festung Ziegenhayn zu Beginn seiner ›Laufbahn‹ als hessischer Soldat und seine Desertion aus Bremen, mit der er sie im Herbst 1783 beendete, dramatisch ins Licht.
    Seumes Kameraden waren eine bunte Menge aus Abenteurern, Bankrotteuren, davongelaufenen Mönchen, hinausgeworfenen Beamten und kassierten Militärs, insgesamt eintausendfünfhundert Mann – nach Seumes Auskunft. Nach militärgeschichtlichen Quellen dürften es wohl eher um die vierhundert gewesen sein.
    Ob nun vier- oder fünfzehnhundert: Dass eine solche Horde – »Menschenragout« nannte Seume sie in Mein Leben  – ausgerechnet dem Studentchen aus Leipzig das Kommando eines Ausbruchs anvertrauen

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