Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
und der Weser. Hier, glaubten sie, könnte er ihnen nicht entspringen, und er selbst hielt sich für verloren: denn, wollte er sich ins Wasser stürzen, so tötete ihn, den durch und durch Erhitzten, der Schlag; blieb er stehen, so war er das Opfer seiner Flucht. Zum Glück sah er in einem Weidenbusch am Ufer der Hunte einen Fischerkahn und sprang hinein.«
Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss – oder fällt nicht zweimal in denselben Dreck, wenn einem die Beckett’sche Variante von Heraklits Sentenz lieber ist; man springt auch nicht zweimal in denselben Kahn. Schon gar nicht, wenn das Erinnern vom Erleben durch Jahrzehnte getrennt ist. Sogar der Nachruhm geht manchmal einen anderen Weg als der Gerühmte, selbst bei wichtigeren Fragen als der, auf welchem denn nun Seume die Flucht gelungen ist.
Jedenfalls werden sich die Bremer die Plakette zu Seumes – und ihrem eigenen – Ruhm nicht nehmen lassen. Biehusen resümiert: »Als Seume seine ›Flucht‹ beschrieb, ging es ihm womöglich um nicht mehr und nicht weniger, als um die Illustration der Schrecken des Menschenhandels im Zeitalter des Absolutismus. Seine Rezipienten sind es womöglich, die den Text fehlinterpretieren, wenn sie ihn als simple Wiedergabe banaler Tatsachen lesen.«
Ist damit der Fall erledigt? So einfach ist es nun auch wieder nicht. Wenn eine Tatsache »banal« und deren Wiedergabe »simpel« ist, wie soll dann überhaupt ein Schreiben funktionieren, das aus der gelebten Wirklichkeit kommt, indem es auf das wirkliche Leben eingeht? Und hat nicht Seume in der Vorrede zu seinem Spaziergang eine aktenmäßige Akkuratesse gerade bei der »Wiedergabe banaler Tatsachen« angemahnt?
»Örter, Personen, Namen, Umstände sollten immer bei den Tatsachen als Belege sein, damit alles so viel als möglich aktenmäßig würde.«
Entsprochen hat er diesem Vorsatz in seinen Sätzen jedoch nicht. Das »mischmaschmäßige Durcheinander«, für das er sich im Schreiben aus America noch entschuldigte, blieb ein Makel seines literarischen Werks – sagen die einen; es garantiert bis heute dessen Frische – widersprechen die anderen.
Die abenteuerliche Geschichte der Desertion in Bremen wurde nach Seumes »Und nun –« von Göschen und Clodius zu Ende erzählt. Das Motiv, oder wenigstens ein Motiv für die Flucht hat Seume unmittelbar vor dem rätselhaften »Und nun« noch selbst genannt:
»Die nächste Veranlassung war ein Gezänk mit dem Feldwebel über Brotlieferung, in welches sich der kommandierende Offizier etwas diktatorisch handgreiflich mischte.«
Dieser kommandierende Offizier war nicht Freund Münchhausen. Den hatte er auf der Rückfahrt von Halifax aus den Augen verloren. Doch hinsichtlich der militärischen und sozialen Position hätte Münchhausen ohne Weiteres an der Stelle dieses Offiziers sein können. In seinem Journal aus jenen Jahren ist notiert, wie er auf einem der Rekrutenschiffe Soldaten handgreiflich ›zur Vernunft‹ bringen ließ, die über schlechte Verpflegung »greulich Resonirten«. Weil »die impertinence« der Rekruten »alzu groß war so muste ich sie binden und tüchtig hauen laßen, wovon sie denn auch recht artig wurden«.
Wäre der gemeine Soldat Seume von dem jungen Offizier Münchhausen in Halifax nicht beim Verseschmieden, sondern bei einem »Gezänk über Brotlieferung« ertappt worden, hätte sich statt der Freundschaft zwischen den beiden leicht eine Feindschaft entwickeln können. Der soziale Abstand zwischen einem, der den Stock führt, und einem, der ihn fühlt, ist politisch nicht zu überwinden mit persönlicher Sympathie und poetischer Kumpanei. Seume hat des Dichterfreundes Tagebuchnotiz gewiss nicht gekannt, doch spürte er schmerzhaft die Kluft, die ihn trotz des Freundschaftskultes in der Poesie im wirklichen Leben von Münchhausen trennte:
»Die einzige Bedenklichkeit in unserer Freundschaft war, dass Münchhausen ein Edelmann war.«
Nachdem Seume, von Brotgezänk und Wein erhitzt, die Flucht aus Bremen gelungen war, trug er das »preußische Gespenst im Kopf« den Preußen in der gespenstischen Wirklichkeit entgegen. Im damals dem König in Berlin unterstehenden Minden wurde er aufgegriffen und (wieder gegen seinen Willen, doch nicht ganz gegen seine Neigung?) in die preußische Garnison von Emden verschleppt. Dort verwandelte sich Johann Gottfried Seume in Johann Friedrich Normann, bis er vier Jahre und zwei Desertionsversuche später auf Kaution freikam und erneut in die Rolle des
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