Der wahre Sohn
Fell, das sich gut streicheln ließ.
Er nahm sein Jackett und ging zum Auto. Alles war so durchsichtig wie diese Luft nach dem Regen. Nichts lag mehr im Dunkeln. Manches tat zwar noch weh, aber nichts mehr war unklar. Wenigstens war klar, was schmerzte.
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Sechzehn
In der Nähe des Kiewer Zentralbahnhofs ließ er den Wagen an der langen Zufahrtstraße stehen, im Parkverbot. Den Rest des Wegs ging er zu Fuß.
Er kam an Männern und Frauen vorbei, die auf Decken am Gehweg vor dem Busbahnhof lagerten. Sie trugen gesteppte dicke Westen, wie Bauern oder Landarbeiter. Schwarze klobige Gummistiefel. Einige hatten offenbar die Nacht hier verbracht, sie steckten noch halb in ihren zerrissenen, speckigen Schlafsäcken. Sie bettelten nicht, folgten ihm nur stumm mit dem Blick, ein bisschen verwirrt, als wären sie gerade aus einem Rausch erwacht und müssten sich die Welt neu zusammensetzen. Freundlich waren weder ihre Blicke noch die gegerbten roten Gesichter mit den stumpfen oder zerschlagenen Nasen. So war Arkadij vielleicht einmal herumgeirrt. Eine jüngere Frau streckte schließlich doch ihre Finger aus. Er griff in seine Hosentaschen und legte ihr alles Kleingeld in die rissige, braune Hand.
Schon auf dem Platz bereute er das, denn von den Imbissbuden am Bahnhofsvorplatz wehte verlockender Duft. Es war ein großer Basar. KFC , McDonald’s, Buden mit ukrainischen Spezialitäten. Er hatte seit über einem Tag nichts mehr gegessen, aber er hatte keine Zeit mehr. Er eilte weiter über den Platz auf die Bahnhofshalle zu.
Dann fiel ihm ein, dass er das schwarzhaarige Mädchen in der Klinik vergessen hatte. Auf dem Tritt drehte er um und wollte zum Auto zurück, sie holen. In diesem Moment glitt der schwarze Schatten in seinen Blickwinkel. Ein großer Wagen, der auf der Mitte des Platzes langsamer wurde und vor ihm stehen blieb. Er erkannte die blankgewienerte Karosserie, die typischen Ausmaße. Es gab in dieser Stadt bestimmt nur ein Exemplar, es konnte nur der Mercedes 500 SE sein. Mit getönten Fensterscheiben, klobig, schwer und überdimensioniert. Die geballte Fettlebe der späten achtziger Jahre in Deutschland, hier im mageren und hungrigen Kiew der Nachwendezeit. Als drehten sie hier einen Film mit einer unpassenden, überdimensionierten Requisite. Nur der dicke Vorstandsvorsitzende fehlte auf der Rückbank. So einer ist immer dick, wenigstens hat er Hamsterbacken, wie der Reichskommissar Erich Koch. Konrad hätte in dieses Fahrzeug steigen können und wäre in Deutschland gewesen, auf einer exterritorialen Insel.
Und wirklich, die Menschen wandten sich nach dem Wagen um, als würde hier ein Film gedreht.
Das ist es, dachte er. Das Auto, nach dem ich so lange gesucht habe. Nach den Tagen oder Wochen, da ich es im Geist schon beinahe vernichtet habe, kommt es leibhaftig zu mir. Und es existiert gar nicht mehr.
«Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.» Auf Leinen gestickt, hatte der Spruch auf dem Mansardenflur gehangen, in einem Holzrahmen. Was für ein Irrwitz. Jetzt, da alle Rätsel gelöst waren, kam das Auto daher, völlig überflüssig. Das nahm er erstaunt, aber ohne große Empörung zur Kenntnis. Das Erscheinen des Autos war eigentlich lächerlich, da platzt es plötzlich herein und nimmt sich wichtig. Dabei ist die Geschichte schon zu Ende erzählt. Konrads Sehnsucht war nicht mehr zu heilen, sie dauerte schon zu lange.
Bei allem Ärger erregte das Auto auch seine Heiterkeit. Es kam ja viel zu spät, es drängte aus dem Jenseits herauf, niemand erwartete es mehr.
Konrad ging einige Schritte auf die Fahrerseite zu, das glänzende Schwarz war so verlockend wie sonst nur Buntes und Blinkendes auf dem Rummel, und er dachte: Öffne dich nur selbst, schon fällt dir die ganze Welt in den Schoß.
Er fühlte sich so frei und erlöst, dass er aus reiner Dankbarkeit alles hergegeben hätte, es rührte ihn beinahe selbst. So wie er der rotgesichtigen Bäuerin seine letzten Hrywnja in die Hand gelegt hatte, wollte er jetzt auch dieses Auto verschenken. Er brauchte es nicht mehr. Es war aus der Geschichte herausgewachsen, diesen Haufen Schrott konnten sie gern behalten.
Er lächelte zum Fenster der Fahrertür, hinter dem er nichts erkennen konnte, und wollte raschen Schritts weiter zum Lada. Das schwarzhaarige Mädchen wartete auf ihn. Da ruckte der Mercedes wieder an, fuhr ein paar Meter weiter und versperrte ihm erneut den Weg.
Sonnenlicht
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