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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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vor.
    Einen Augenblick überlegte er, ob er zurückfahren und Arkadij wegholen sollte. Doch wohin hätten sie gehen sollen? Es gab kein Ziel mehr, niemanden, den sie noch suchen konnten. Er konnte ihn beruhigt dalassen. Irgendeine Babulina würde ihn aufnehmen, eins der Mütterchen würde ihm eine kleine Schlafkoje geben oder ihn auf dem Ofen übernachten lassen, froh, nicht mehr allein zu sein. Von so einer Frau gehätschelt und gepflegt, könnte er, wenn der Katheter nicht verstopfte, noch rascher altern, ein paar Wochen lang an Olhas Grab schlurfen und in der frischen Landluft blasser werden, um sich am Ende aufzulösen wie ein Stück Zucker im Tee. Ein alter Mann, der ganz in seiner Liebe aufgeht, die er selbst immer bestritten hat. Wenn sein Brüderchen Wasyl ihm nicht vorher den Rest gibt.
    So schnell war es nun gegangen. Konrad nahm Arkadij nichts übel, es war ja sein Irrtum gewesen. Seine wahnwitzige Hoffnung. Er hatte sich in diese phantastische Welt vernarrt und geglaubt, da müsse mehr sein als ein Auto. Irgendetwas.
     
    Der Tacho zeigte hundertzwanzig.
    Er fuhr immer schneller, weil er nicht wusste, wohin.
    Ein harter Knall, und er wusste, dass er jemanden angefahren hatte.
    Das Einzige, was er im verregneten Scheinwerferlicht erkannt hatte, war die langgezogene, verwischte Form des Körpers. Vermutlich kein Mensch, es wirkte wie auf allen vieren – ein Tier, ungefähr von der Größe eines Wolfs, der dicht vor dem Auto vorbeilief und dann, vom rechten Kotflügel erwischt, in abrupt beschleunigtem Lauf in den Straßengraben schoss. Geschossen wurde.
    Er raste weiter, floh wie vor Tagen. Oder waren es schon Wochen? Jetzt hatte es ihn eingeholt: Onkel Wolfgang hatte sich mit einer Hand plötzlich an den Hals gegriffen und ihn angestiert, und Konrad wusste nicht, was passiert war.
    «Arbeiterklasse», hatte der Onkel gesagt. «Dass ich nicht lache. Die Sowjetunion war eine Ausgeburt von Rückständigkeit und Versklavung. Tiefstes Asien, Byzanz. Denkst du vielleicht, die armen Teufel, die jahrelang Bahngleise durch die Sümpfe Sibiriens legen oder den Ostsee-Weißmeer-Kanal ausheben mussten und dabei zu Tausenden verreckt sind, das wären freie Arbeiter gewesen? Wir waren es damals, die für die arbeitenden Menschen und ihre Freiheit gekämpft haben.»
    Konrad hatte seinen Standpunkt zu rechtfertigen versucht und darauf einen der sadistischen Ergüsse des Onkels zu hören bekommen, gegen die er sich immer schwer wehren konnte:
    «So verletzlich war die weiße Haut der Männer unter dem Stoff der verschwitzten, schmutzigen Uniformen», sagte der Onkel ganz leise. «Wurden in ihrer Verletzlichkeit wieder wie kleine Jungs. Stell dir vor – die Helden der Revolution, wehrlos wie kleine Jungs! Erst gehärtet im Stahlbad und jetzt zusammengepfercht in einem luftdichten Keller, wo sie einander in Todesangst bissen. Ich erinnere einen nebligen Morgen» – der Onkel zog an seiner Zigarette, und die frankophile Wendung verstärkte noch Konrads Ekel – «als ich an diesem Bunker vorbeikam. Die Eisentür stand offen, wie bei einem Saunabad, das gerade gelüftet wird, kein Mensch in der Nähe – ein Dienstvergehen, der hätte erschossen werden können, der dort Wache stehen sollte, und durch die offene Tür sah ich etwas, was ich mein Lebtag nicht vergesse. Eine große Zahl von Leichen, Männer in Soldatenuniformen der Roten Armee, kreuz und quer aufeinanderliegend. Ein merkwürdiger, metallischer Geruch hing in der Luft. Ich konnte sehen, dass diese Männer sich kurz vor dem Tod gegenseitig gekratzt und gebissen hatten. Einigen standen die Augen offen, es war, als starrten sie zu mir heraus, zu mir, der ich hier frisch rasiert in der Morgenluft stand und am Leben war. Von den Uniformhemden und Ärmeln waren Fetzen abgerissen. Blutüberströmte Münder und Gesichter, ineinander verklammerte Körper in einer makabren Todesumarmung.»
    «Das ist ja ekelhaft.»
    «Ja, es war wirklich grauenhaft», erwiderte der Onkel.
    «Nein, die Art, wie du erzählst, meine ich. Ekelhaft.»
    «Was sagst du?»
    «Schmierig.»
    «Schmierig», sprach der Onkel durch die Lippen, nahm einen Zug und dachte nach. Er ließ den Rauch im Mund denken.
    «Ich glaube, du verstehst noch nicht, was ich sagen wollte …»
    «Ich habe das Gefühl, du geilst dich daran auf.»
    Onkel Wolfgang schluckte. Er blieb ruhig, nur in das Weiße in seinen Augen trat ein unheilvoller rötlicher Schimmer.
    «Du weißt nicht, was du mir bedeutest.» Er atmete

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