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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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fielen durchs Licht der Scheinwerfer wie durch ein Sieb. Er atmete heftig.
    Wie hatte er die letzten Wochen überleben können? Es war ein Wunder.
    Er war wie gelähmt.
    Er hatte Angst umzukehren. Und konnte doch nicht weiterfahren.
    Diesmal musste er zurück.
    Er wendete. Nach den ersten Kilometern fuhr er langsamer und behielt die linke Straßenseite im Auge. Je länger er vergeblich Ausschau hielt, desto unsicherer wurde er, wo genau und ob der Zusammenstoß tatsächlich passiert war. Selbst wenn, dann war das Unfallopfer, ob Tier oder Mensch, vielleicht längst auf und davon.
    Dann erkannte er das alleinstehende Gehöft wieder, an dem er vorbeigekommen war. Einige Hundert Meter weiter lag tatsächlich etwas. Konrad parkte den Wagen im Gras neben der Straße und stieg aus. Es war ein großer, gelbbrauner Mischling mit langen Beinen und buschigem Schwanz, mit dem Kopf eines Schäferhundes. Konrad hörte ein leises Knurren, vorsichtig näherte er sich dem Tier. Das Knurren wurde lauter, aber der Hund bewegte sich nicht. Er hob den Kopf kurz an, ließ ihn gleich wieder sinken. Konrad setzte sich in einigem Abstand ins Gras, er wollte das Tier nicht ängstigen.
    «He, Artur», sagte er. «Da bist du ja wieder.»
    Natürlich war das nicht Artur. Aber er hörte auf zu knurren.
    «Tut mir leid, alter Kerl. Was läufst du hier auch über die Straße? Sehr unvorsichtig. Auch wenn ich langsamer gefahren wäre, hätte ich dich erwischen können.»
    Der Hund blickte ihn an. Wenn Konrad seine Stimme hob, stellten sich die großen, pelzigen Ohren auf.
    «Verstehst mich, oder? Bist doch ein deutscher Schäferhund.»
    Es tat Konrad gut, wieder in seiner Sprache zu reden. In der Sprache seiner Mutter. Der Körper dieser Mutter ist Luft, ihre Sprache nicht.
    «Ich will dich nicht lange stören. Brauch nur eine kurze Pause, dann fahr ich weiter. Scheiße gelaufen heute, ganz große Scheiße. Alles schiefgegangen. Eh», sagte er und streckte seine Hand zu ihm aus. Er hatte das Bedürfnis, freundlich zu ihm zu sein. Wollte ihn streicheln. Wollte auch selbst Zärtlichkeit und Wärme. Der Hund bleckte die Zähne, Konrad zog seine Hand zurück.
    «Brauchst wohl kein Mitleid.»
    Er lehnte sich zurück und begann zu summen. Vor der Kaserne.
    «Hast recht. Mitleid ist was für Schwächlinge. Wir beide brauchen so was nicht. Was machst du hier ganz allein in der Nacht? Hast du ein Herrchen oder ein Frauchen? Vermisst dich jetzt niemand? Mich auch nicht. Aber ich kann mich wenigstens noch bewegen.»
     
    Hatte er Mitleid? Mit einem Tier?
    «Ich war zu schnell, wollte wieder mal der Schnellste sein. Hab alles eingerissen. Umgeschmissen. Überrollt. Kaputtgemacht. Nichts gefunden, dafür – wie ein deutscher Panzer, verstehst du? Nein, warte. Einen hab ich doch befreit. Befreit, wie man im Winter ein Pfauenauge aus dem Dachfenster schubst. Drinnen flattert es noch, draußen erfriert es auf der Stelle. Ist dir auch kalt? Willst du eine Decke?»
    Er zog sein Jackett aus und breitete es dem Hund über den Leib.
     
    Irgendwann wurde er so müde, dass er sich in das feucht gewordene Gras legte. Er spürte die Kälte, die jetzt in der Nacht vom Boden kam, zog die Knie an und rollte sich zusammen. Es schüttelte ihn leicht, vor Kälte oder von einem beginnenden Fieber, dann schlief er ein. Mitten in der Nacht wachte er auf und blickte in die großen, offenen, braunen Hundeaugen, die jetzt nah waren und ihn unverwandt ansahen. Ein Blick, als schaute ihn daraus das ganze Weltall an. Als wäre die Welt für ihre Existenz darauf angewiesen, Konrad Krynitzki zu sehen. Im Schlaf war er näher an das Tier herangerückt, ohne es zu merken. Der Hund hechelte leise, als wäre ihm heiß. Konrad spürte seinen Atem im Gesicht. Dann schlief er wieder ein.
     
    Gegen Morgen wachte er in der Kälte und Nässe des Taus auf, vielleicht auch, weil es plötzlich still geworden war. Nur die Vögel zwitscherten, hell wie die Regentropfen, die zu Tausenden an den feinen Birkenzweigen hingen. Konrad öffnete die Augen. Sie lagen am Rande eines frisch gepflügten Ackers. An seinem Ende leuchtete es silbern durch die Erlenbüsche. Der Hund war noch da, Konrad sprach ihn leise an, immerhin hatten sie die Nacht miteinander verbracht. Der Hund hechelte nicht mehr und rührte sich nicht. Konrad beugte sich über ihn. Das Tier gab keinen Laut von sich. Er näherte seine Hand der Schnauze, strich ihm über die glatten Haare der Stirn. Einmal, noch einmal. Ein dichtes, weiches

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