Der wahre Sohn
tief aus. «Vielleicht ist das meine letzte große Enttäuschung im Leben. Als würde ich dich ein zweites Mal verlieren. Dabei habe ich dir das Wichtigste noch gar nicht gesagt. Du schlägst wohl doch eher nach deinem Vater. Rüdiger glaubte auch immer zu wissen, was richtig und was falsch ist. Bei ihm ging alles nach Paragraph. Ilse hat sehr unter seiner Sturheit gelitten.»
«Was hat meine Mutter damit zu tun?»
«Stimmt, ja.» Er machte eine Kunstpause und zündete sich eine neue Zigarette an. «Was hat eigentlich deine Mutter mit dir zu tun? Sie lag die letzten Jahre in einem Pflegeheim, halbseitig gelähmt, dich hat das nicht interessiert. Niemand hat sich um sie gekümmert. Nur ich bin hingefahren, aber ich bin ja der schmierige Onkel.»
Konrad wunderte sich, dass er ruhig blieb. Im Pflegeheim? Danke für die Nachricht, aber ihn regte das nicht mehr auf. Das war alles kalt geworden. Nicht einmal mehr Hass empfand er für sie. Vor langer Zeit hatte er einmal beschlossen, sich eine neue Mutter zu suchen. Auch wenn er damit noch nicht weit gekommen war, so hatte der Vorsatz ihm doch Zuversicht verliehen. Aber der Onkel redete weiter.
«Ilse war die einzige Frau in meinem Leben, die mich verstand. Wir waren schon immer ein Herz und eine Seele. Als ich aus Russland heimkam, hat sie mich aufgenommen. Ich war krank, richtig krank von dem, was ich im Krieg gesehen hatte. Sie hat mich getröstet und gepflegt.»
«Sie ist ja auch deine Schwester.»
«Sie war mehr als das. Nur dein Vater stand zwischen uns. Als er gemerkt hat, dass wir uns trafen, hat er sie verlassen.»
«Was heißt trafen?»
«Sie war nett zu mir, verstehst du? Sie hat versucht, mich von meinen Gedanken an die Jungs abzubringen. Sie wollte mich von den Reizen der Frau überzeugen. Du weißt, dass sie einen schönen Körper hatte.»
Bei diesen Worten empfand Konrad etwas, das mehr Physiologie war als Gefühl, mehr als Eifersucht oder Wut. Etwas Tierisches, Blutiges. Der Körper seiner Mutter existierte ja nicht. Sie war Luft gewesen und zu Luft geworden, und nie, nie mehr wieder wollte er etwas von ihr wissen. Dann hörte er erneut die Stimme des Onkels.
«Irgendwann musste sie einsehen, dass es nichts hilft. Aber auch danach blieben wir sehr eng miteinander. Dass wir etwas Verbotenes taten, hat uns noch mehr verbunden. Erst als sie gestorben war, bin ich nach Berlin gezogen. Das solltest du wissen, du bist jetzt erwachsen genug. Ich habe dir geschrieben, ein paarmal. Du hast nie geantwortet.»
Konrad wusste nicht, was er sagen sollte.
«In dem Jahr, als du geboren wurdest, haben wir uns auch noch getroffen. Vielleicht rührt daher meine besondere Zuneigung zu dir, trotz allem anderen. Du könntest mein Sohn sein.»
«Da wäre ich schon lieber tot», sagte Konrad.
Sekunden darauf hatte er diesen raschen Griff an den Hals gesehen, als wollte der Onkel eine Mücke totschlagen, diesen Satz wegklatschen. Seine glotzenden Augen und die Bewegungsunfähigkeit. Keine Frage mehr. Nur das Entsetzen. Als sähe er etwas, was Konrad nicht sah.
Einige Sekunden lang hatte Konrad diesen Anblick ertragen, dann war er aufgesprungen und weggerannt. Was ist passiert? Hatte die Haushälterin noch gerufen. Er hörte es noch splittern, als wäre der schwere Bücherschrank umgekippt oder etwas Schweres in die Glastür der Veranda gefallen.
Am selben Abend klingelte in der Mansteinstraße das Telefon. Er hob nicht ab, aus Angst, die Haushälterin könnte es sein oder die Polizei. Dann hörte er Muschters Stimme auf dem Anrufbeantworter. Noch nie war er so froh über einen Anruf seines Auftraggebers gewesen. Am nächsten Vormittag trafen sie sich im Hotel Interconti. Das ideale Timing. Er musste weg, Muschter gab ihm einen willkommenen Anlass. Endlich raus aus dieser Stadt. Er freute sich auf die neue Freiheit und die Ungebundenheit in Kiew, wo er ein Fremder war. Wo er keinen Menschen kannte und niemand von seiner Geschichte wusste. Nach Osten fahren ist Wiedergeburt.
In der nächsten Siedlung hielt er an. Im Dämmerlicht der Straßenlaternen konnte er den Namen auf dem blauen Ortsschild kaum entziffern, Deremezna hieß es wohl. Mit Hilfe von Arkadijs Karte versuchte er, den Ort zu finden. Er strich das Papier glatt, seine Augen irrten über das Spinngeweb der Straßen, aber er fand sich nicht zurecht. Mit laufendem Motor saß er hinter dem Lenkrad und sah durch die nasse Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer klatschten träge hin und her. Regenfäden
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