Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totgekuesste leben laenger

Totgekuesste leben laenger

Titel: Totgekuesste leben laenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Harrison
Vom Netzwerk:
1
    Wutschnaubend lehnte ich mich an einen der rauen Felsen. Sonnensprenkel huschten über meine Sneakers und mein Haar kitzelte mich im Nacken, als der Wind hineinblies. Die Kids, die im nahen See schwammen, veranstalteten einen Riesenlärm, aber ihr fröhliches Geschrei ließ den Kloß in meinem Hals nur noch größer werden. Warum, bitte schön, sollte es nach vier Monaten vergeblichen Übens in nur zwanzig Minuten plötzlich klappen?
    »Bloß keinen Stress«, murmelte ich und blickte verstohlen zu dem weißen Engel, der auf der anderen Seite des Feldwegs mit geschlossenen Augen an einer Kiefer lehnte.
    Vermutlich war Barnabas älter als die Dinosaurier, aber mit seinen Jeans, dem schwarzen T-Shirt und der schlaksigen Statur sah er aus wie ein typischer Teenager. Seine Flügel, mit denen wir hergeflogen waren, konnte ich nicht sehen, aber sie waren definitiv da. Er war ein Todesengel, mit lockigem Haar, braunen Augen und abgelatschten Nike Airs. Ha, Nike Airs - bei einem Engel bekommt das gleich eine ganz andere Bedeutung!, dachte ich bei mir und rollte nervös einen Kiefernzapfen unter dem Fuß hin und her.
    Barnabas spürte, dass ich ihn ansah, und schlug die Augen auf »Versuchst du es überhaupt, Madison?«, fragte er.
    »Nö, selbstverständlich nicht«, meckerte ich, obwohl mir klar war, dass mein Protest keinen Sinn hatte.
    Mein Blick fiel auf meine Schuhe. Sie waren gelb, mit Totenköpfen und gekreuzten Knochen auf der Kappe, und mit ihren lila Schnürsenkeln passten sie perfekt zu den lila gefärbten Spitzen meines kurzen blonden Haars. Nicht, dass das jemals irgendwem aufgefallen wäre.
    »Es ist zu heiß, um sich zu konzentrieren«, klagte ich. Barnabas zog die Augenbrauen hoch und warf einen vielsagenden Blick auf meine Shorts und mein Tanktop.
    Eigentlich war mir auch gar nicht heiß, aber die Nervosität machte mich ganz zappelig. Als ich heute Morgen zur Schule geradelt war, um mich dort mit Barnabas zu treffen, hatte ich noch keine Ahnung, dass ich in einem Ferienlager landen würde. Eigentlich freute ich mich, mal aus Three Rivers rauszukommen. Das Universitätsstädtchen, in dem mein Vater lebte, war zwar ganz nett, aber die Neue zu sein, kotzte mich echt an.
    Barnabas warf mir einen finsteren Blick zu. »Die Temperatur hat überhaupt nichts damit zu tun«, sagte er und ich rollte den knubbeligen Kiefernzapfen noch schneller unter meinem Fuß hin und her. »Taste nach deiner Aura. Ich stehe direkt vor dir. Mach schon oder ich bring dich nach Hause.«
    Ich versetzte dem Zapfen einen Tritt. Wenn er mich nach Hause brachte, würde derjenige, den wir hier retten sollten, sterben - wer auch immer es war. »Ich versuch's ja.« Ich lehnte mich wieder an den Felsen und griff nach dem schwarzen Stein in der silbernen Drahtfassung, der um meinen Hals hing. Als Barnabas sich ungeduldig räusperte, schloss ich die Augen und probierte, mir einen verschwommenen Nebel vorzustellen, der mich umhüllte. Wir versuchten, stumm miteinander zu kommunizieren, nur durch unsere Gedanken. Wenn ich es schaffte, meinen Gedanken dieselbe Farbe zu verleihen, die der Nebel um Barnabas hatte, würden sie durch seine Aura schlüpfen, sodass er mich hören konnte. Gar nicht so einfach, vor allem, da ich seine Aura noch nicht mal sehen konnte. Vier Monate ging dieses seltsame Lehrer-Schüler-Ding nun schon und ich hatte noch nicht einmal die erste Stufe geschafft. Barnabas war ein weißer Todesengel des Lichts. Schwarze Todesengel töteten Menschen, die in der Zukunft etwas tun würden, das den großen Plänen des Schicksals zuwiderlief. Die weißen Engel versuchten, sie aufzuhalten, um das Recht der Menschheit auf ihren freien Willen zu schützen. Angesichts der Tatsache, dass es seine Aufgabe gewesen war, mich vor dem Tod zu bewahren, musste Barnabas mich wohl als einen seiner spektakulärsten Fehlschläge betrachten.
    Allerdings war ich keineswegs gelassen in die gute Nacht gegangen. Ich hatte gejammert und gegen meinen frühen Tod protestiert und es irgendwie geschafft, mich zu retten, indem ich meinem Mörder ein Amulett klaute.
    Das Amulett verlieh mir die Illusion eines Körpers. Dummerweise hatte ich noch immer keinen Schimmer, wo mein richtiger Körper war - ziemlich blöd irgendwie. Und ich hatte auch keinen Schimmer, warum die es überhaupt auf mich abgesehen hatten. Als ich es mir genommen hatte, war das Amulett wie Feuer und Eis zugleich auf meiner Haut gewesen. Es hatte sich von einem trüben, stumpfen Grau zu einem

Weitere Kostenlose Bücher