Der Wald ist schweigen
einer Kitschkapelle in Las Vegas geheiratet hat. Sie haben sich nie um Verhütung gekümmert und als sich kein Nachwuchs einstellte, hat Juliane ihr Unbehagen immer wieder verdrängt. Partys, Urlaube, Theater- und Konzertabonnements, Übersetzungen für die UNO, rund um den Globus. Sie hat das Leben auf der Überholspur genommen und nicht wahrhaben wollen, dass jede Straße irgendwo endet.
Wo ist die Zeit geblieben, fragt sie sich jetzt. In ein paar Wochen wird sie 43 und ihr Mann wird nicht wieder heimkommen, dessen ist sie sich sicher. Heute nicht und auch nächste Woche nicht, wenn die Herbstferien vorbei sind. Und spätestens dann kann sie das nicht mehr verheimlichen. Die Direktorin wird bei ihr anrufen und fragen, wo Andreas ist, und was soll sie dann sagen? Sie drückt auf die Klospülung, aber ein paar der Lilienblätter wollen einfach nicht untergehen. Sie muss zur Polizei gehen und ihren Mann als vermisst melden. Tut sie das nicht, wird sie sich verdächtig machen. Sie drückt noch einmal auf die Klospülung, länger diesmal, aber ein paar Blütenblätter sind immer noch da. Juliane Wengert lässt sich auf den Badezimmerteppich sinken. Zu ihrem Entsetzen beginnt sie zu weinen.
***
Diana Westermann denkt an Tansania, die Ebenen mit den staubigen roten Böden, das Hochland mit seinem überbordenden Grün, das auf eine Weise leuchtet, die weiter nördlich des Äquators niemals möglich wäre. Als ob die unbarmherzig grelle Sonne in Afrika alles so lange verbrennt, bis das, was übrig bleibt, eine Essenz ist, hat sie oft überlegt, während sie ihren Jeep durch den Busch lenkte, auf der Suche nach einem Dorf, einer Wasserstelle, irgendeinem Anzeichen von menschlichem Leben. Eine Essenz, so pur, wie sie in Deutschland niemals entstehen könnte. Werden und Vergehen, Maßlosigkeit und Hunger, Hitze und Kälte – all das ist in Afrika ein ständiges Wechselspiel, das nicht durch etwas so Allmähliches gemindert wird wie einen deutschen Herbst. Und ich brauche auch keinen deutschen Herbst, brauche die Überschaubarkeit eines seit Jahrhunderten bewirtschafteten Forsts nicht, in dem nichts einem Wanderer nach dem Leben trachtet, hat sie in Afrika gedacht. Wie sehr sie sich geirrt hat. Die Welt hatte sie verändern wollen, wenn sie frühmorgens das Moskitonetz über ihrer Hängematte zurückschlug und vor ihre Hütte trat. Dem Raubbau etwas entgegensetzen, mit ihrer ganzen Kraft, ihrer ganzen Energie. Es hat nicht funktioniert, war vielleicht von Anfang an nur eine Illusion. Und jetzt droht dieses kleine, überschaubare, deutsche Leben, für das sie sich entschieden hat, auch noch aus den Fugen zu geraten. Diana Westermann zieht die Decke enger um sich und starrt auf das Teakholz-Imitat. Ich will hier raus.
Die Schiebetür wird wieder aufgezogen und die Gefleckte klettert zurück in den Bus. Sie stinkt nach Zigarettenrauch. Der grauhaarige Polizist, der Diana stumm bewacht hat, macht plötzlich wieder Habichtaugen. Zu dritt ist es viel zu eng im Bus. Zu nah. Diana versucht, sich aufrecht hinzusetzen. Ihre Beine fühlen sich taub an. Die Plastiksitzbank ist scheußlich unbequem.
»Wann kann ich endlich heim? Ich warte hier und warte. Ich habe weiß Gott noch andere Dinge zu tun. Okay, ich habe eine Leiche gefunden. Aber das ist ja wohl kein Verbrechen. Ich will jetzt heim, auf der Stelle. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
Die Kommissarin setzt sich Diana gegenüber und lässt sie reden. Es sieht so aus, als ob sie die Zähne zusammenbisse, um eventuelle Kommentare zurückzuhalten. Aber als sie schließlich zu sprechen beginnt, klingt ihre Stimme erstaunlich weich und freundlich.
»Ich bedaure, dass wir Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereiten. Aber sehen Sie, wir können Sie nicht einfach heimschicken, bevor Sie eine Aussage gemacht haben. Wir müssen einen Mord aufklären.«
»Mord? Er ist also …?« Diana fühlt, wie ihr Herz zu rasen beginnt. Ihre Stirn wird feucht, sie wischt darüber, reibt die Hand an der Decke trocken. Fühlt, wie sich neue Schweißtröpfchen bilden.
Die Gefleckte blättert in ihrem Notizblock und kramt mit der Rechten ihren Füller aus der Manteltasche. Sogar auf dem Handrücken hat sie Sommersprossen. Sie lächelt Diana an.
»Haben Sie auf dem Hochsitz irgendetwas angefasst, irgendetwas weggenommen oder verändert?«
Diana schüttelt den Kopf.
»Sicher?«
»Sicher.«
»Gut.« Die linke Hand blättert in dem Notizblock. Wieder lächelt die Kommissarin dieses Lächeln, das
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