Der Wald ist schweigen
einen guten Blick auf die anderen und zum Altar. Inzwischen ist es okay, hier zu sein. Mehr als okay, eigentlich. Die Schule, ihre Freundinnen, Bonn, die Altbauwohnung, in der sie mit ihrer Mutter gelebt hat, all das rückt immer weiter weg. Ein anderes Leben, eine andere Welt, unerreichbar jetzt. Abgenabelt. Abgehakt. Sogar die Erinnerung an ihn verblasst, auch wenn die Sehnsucht manchmal noch an ihr nagt und beißt. Immer seltener geschieht das inzwischen, denn sie hat ja kaum eine freie Minute. Es gibt so viel zu tun, so viel zu lernen.
Und dann ist da noch der andere, den sie nicht bei seinem richtigen Namen nennen darf, sondern so, wie er gern heißen möchte: Jey. Sie denkt an Andis Worte. Es gibt so viele Spielarten von Sex, kleine Laura, so viel zu erfahren. Die Liebe ist etwas ganz anderes. Liebe, denkt Laura, Andi, ich liebe dich, warum schreibst du mir nicht mehr? Wo bist du? Andi ist weit weg. Und deshalb ist sie, Laura, ihm zu gar nichts verpflichtet. Und wenn sie in der Zwischenzeit mit Jey schläft, muss Andi das verstehen, schließlich hat er ja seine Frau. Ich kann nicht von dir verlangen, dass du mir treu bist, Laura, immer und immer wieder hat er das gesagt. Andi. Aber bald ist das alles vorbei. Bald werden sie sich für immer in den Armen liegen und alle anderen werden unwichtig sein. Andis Frau, Jey, Lauras Mutter. Nächstes Jahr wird es so weit sein, wenn Laura 18 ist und endlich tun kann, was sie will. Fortgehen von hier und ein neues Leben beginnen, mit Andi. Sie denkt an letzte Nacht, an den Nachmittag im Schafstall, mit dem anderen. Mit Liebe hat das gar nichts zu tun, sagt sie sich. Nur Sex, kleine Laura, nur guter, alter Sex, hört sie Andis Stimme. Und niemand muss davon erfahren. Laura ballt die Fäuste. Diesmal wird sie es schaffen, diesmal wird sie ihr Geheimnis hüten. Diesmal wird sie nicht erlauben, dass irgendwer sie von etwas fortreißt, das sie braucht wie sonst nichts auf der Welt.
Heiner tritt ein und entzündet Räucherstäbchen und Kerzen. Dann löscht er das Licht. Beate setzt sich im Lotussitz auf die Empore und sie singen dreimal das Om. Danach wird es so still, dass Laura sogar das leise Zischen zu hören glaubt, mit dem die Kerzenflammen Wachs verbrennen. Lauras Mantra heißt anandoham. Das ist ein Sanskrit-Ausdruck und bedeutet ›ich bin Wonne‹. Gestern hat sie endlich ihren Mut zusammen genommen und um ein anderes Mantra gebeten, aber Heiner wollte davon nichts wissen. Da, wo die größten Widerstände sitzen, steckt auch das Potential zur Heilung, hat er ihr erklärt. Wieso Heilung? hat Laura gefragt, aber Heiner hat nur würdevoll genickt und sie so lange angesehen, bis sie es nicht mehr aushielt und den Kopf senkte. Du musst Vertrauen haben, Laura, und damit legte er die Handflächen vor seiner Brust zum Abschiedsgruß aneinander.
Vertrauen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, hat ihr Vater immer gesagt. Aber ihr Vater ist tot, oder jedenfalls verschwunden. Anandoham, anandoham, wiederholt Laura stumm. Der Duft von Weihrauch und Kampfer schwebt durch den Raum. Was die anderen wohl für Mantras haben? Die Mantras werden vom Meister persönlich vergeben und sind streng geheim, man darf sein Mantra niemandem verraten. Aber vielleicht ist das nur ein großer Bluff und in Wirklichkeit sitzen sie bei jeder Meditation schweigend nebeneinander und wiederholen im Kopf alle dasselbe. Anandoham, anandoham, anandoham. Es ist so schwer, den Geist leer zu machen, nichts anderes zu denken. Chris vom Küchenteam, der neben ihr kniet, furzt leise. Jey hat raue, schwielige Hände, ganz anders als Andi. Anandoham, anandoham. Übermorgen hat sie ihren freien Tag. Sie muss in die Stadt, muss unbedingt ins Internetcafé. Laura zupft die Decke über ihren Knien zurecht und streckt den Rücken durch. Anandoham, anandoham. Vielleicht hat er ja geschrieben, und alles ist nur ein Missverständnis.
***
Es ist schon dunkel, als Judith den Ford Focus zum Sonnenhof lenkt. Pfützen leuchten im Strahl der Scheinwerfer auf wie Irrlichter, Bäume und Unterholz verzerren sich zu schwarzen Schemen, die das Fahrzeug anzuspringen scheinen. Wieder hat sie das Gefühl aus dem Traum. Gefahr in Slow motion, wie in der Zeitlupenfrequenz eines Kinothrillers. Ihr Kopf ist betäubt von den vielen Zigaretten, die sie geraucht hat, in ihrer Brust sticht etwas. Ihre Finger sind eiskalt. Ich bringe es einfach nicht, denkt sie und fasst das Lenkrad fester. Der Nachmittag ist ein denkbar schlechter
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