Der Wald ist schweigen
zugeflüstert und ist mit festen Schritten und einem Lächeln auf den Lippen in ein neues Leben geeilt. Judith hat sich dabei ertappt, dass sie sie beneidete.
»Also, wo ist der Kandidat, der uns den Sonntag gestaltet?« Karin pult eine Packung Juicy-Fruit-Kaugummis aus der Jackentasche und bietet sie an. Judith schüttelt den Kopf und dreht sich eine Zigarette, Manni schiebt sich eines seiner unvermeidlichen Pfefferminzbonbons zwischen die Zähne, die beiden Ks beginnen rhythmisch zu kauen. Beide haben einen blassen Teint, den die kalte Luft rosig färbt.
»Ich bring euch hin.«
Kurze Zeit später ist auch der Rechtsmediziner da. Karl-Heinz Müller, ein brathähnchenbrauner Mitvierziger mit Dreitagebart, der eine Wolke herben Aftershaves hinter sich herzieht, als er behände die Leiter zum Hochsitz erklimmt.
»Ihr wartet hier unten.« Müller liebt komplizierte Fälle und verfügt über ein äußerst stabiles Selbstbewusstsein. Er pfeift einen Boney-M-Schlager, während er den Leichnam in Augenschein nimmt.
»Wie lange ist er schon tot?«, ruft Judith nach einer Weile.
»Ihr ändert euch nie, oder?« Müllers Gesicht taucht einen Moment über der Leiter auf.
»Ungefähr zumindest?«
»Vorgestern hab ich mir noch am Nassau Beach frische Kokosnüsse aufschlagen lassen und wahrhaftig ganz und gar vergessen, wie lästig ihr sein könnt.«
Müller nimmt seine musikalische Darbietung wieder auf. Daddy Cool. Judith denkt an die Försterin im Bus. Etwas stimmt nicht mit ihr. Sie würde gern über dieses Gefühl sprechen, weiß aber nicht, wie sie mit Manni reden soll. Bei Patrick hätte sie es gewusst. Stumm stehen sie nebeneinander im nassen Gras an der Stelle, die Karin und Klaus ihnen zugewiesen haben. Ich bringe es einfach nicht mehr, denkt Judith. Der Tag ist noch nicht einmal halb vorbei und schon habe ich das Gefühl, dass mir die Ermittlungen entgleiten. Eine Chance, hat Millstätt gesagt. Aber ich tauge nicht zu einer Chance. Ich habe keine Chance verdient.
Sie sieht sich um. Von irgendwoher müssen Täter und Opfer gekommen sein. Wenn sie es nicht mit einem Selbstmörder zu tun haben. Aber auch der wird nicht splitterfasernackt durch den Wald gerannt sein. Irgendwo muss er eine Spur hinterlassen haben. Kleider. Eine Waffe. Ein Fahrzeug. Und wo, verdammt nochmal, sind die Bretter aus dem Dach des Hochsitzes?
»Kommt mal hoch, ihr zwei.« Müller winkt.
Es ist zu eng für drei Personen auf dem Hochsitz, Manni bleibt auf der Leiter, Judith presst sich an die Wand. Der Gestank des Todes senkt sich über sie wie eine Glocke. Ungerührt beugt Karl-Heinz Müller sich dicht über die zerstörten Überreste des Gesichts des Toten und drückt mit dem Ende einer Plastikpinzette vorsichtig in die rechte Augenhöhle. Etwas ist dort, ein Metallkügelchen. Müller richtet sich auf und deutet mit der Pinzette auf die Rückwand des Hochsitzes, wo mehrere dunkle Löcher erkennbar sind.
»Schrot!« Judith spricht lauter, als es nötig ist.
»Schrot.«
»Also ist die Tatwaffe ein Jagdgewehr.«
»Eine Flinte. Wenn der Schrot die Todesursache ist, ja.«
»Du meinst, jemand kann mit einer Ladung Schrotkugeln im Kopf auf einen Hochsitz klettern?«
»Das nicht, aber er könnte ja schon tot gewesen sein, als auf ihn geschossen wurde. Oder hier hochgetragen worden sein. Obwohl er ein ziemlich stattlicher Bursche ist.«
Müller beugt sich über die zerfressene Brust des Toten und macht sich auch dort mit der Pinzette zu schaffen. Nach kurzer Zeit sichert er ein weiteres Metallkügelchen.
»Da hat jemand nicht nur einmal abgedrückt.«
Hass, denkt Judith. Eifersucht. Leidenschaft. Wut. Die ganze unerfreuliche Palette. Aber wo sind die Kleider des Toten? Und wer hat das Loch ins Hochsitzdach gesägt? Das war keine Tat im Affekt. Jedenfalls war der Täter kaltblütig genug, dafür zu sorgen, dass wir sein Opfer nicht so leicht identifizieren können.
»Schrot«, sagt Manni. »Wer außer Jägern schießt mit Schrot?«
Müller hebt die kompakten Schultern und dreht die blutigen Handflächen zum Himmel.
»Braucht ihr noch lange?« Klaus’ Stimme. Die beiden Ks haben ihre Gerätschaften aufgebaut und wollen anfangen.
»Wie lange ist er schon tot?«, fragt Judith.
Müller legt den Kopf schief.
»Etwa zehn Tage – aber nagel mich bloß nicht fest darauf. Diese Krähen haben ein verdammtes Chaos angerichtet.«
»Es besteht wohl keine Chance, dass man rekonstruieren kann, wie er mal aussah?«
»Vergiss es. Wir sind hier
Weitere Kostenlose Bücher