Der Wald ist schweigen
Orange.«
»Das heißt, Sie sind vital und leidenschaftlich, müssen nur manchmal aufpassen, dass Sie nicht zu schnell vorpreschen und sich verbrennen.« Offenbar ist es Beate von Stettens Rolle, die Worte ihres Mannes zu interpretieren. Wieder verrät ihre Stimme nichts darüber, wie sie zu dem Gesagten steht. Judith fragt sich, wie Heiner von Stetten wohl die Aura seiner Ehefrau beschreiben würde. Sie versucht, sich gerade hinzusetzen. Es ist lächerlich, eine Befragung auf dem Fußboden kauernd durchführen zu müssen. Sie sehnt sich nach einem Stuhl mit Lehne. Sie probiert es mit dem Schneidersitz. Absurd ist diese ganze Situation. Ihre Socken sind ausgeleiert und über den großen Zehen dünngescheuert. Abrupt springt sie auf.
»Herr von Stetten, wenn wir eine psychologische Beratung brauchen, werden wir uns bei Ihnen melden. Jetzt aber ermitteln wir in einem Mordfall. Gibt es hier irgendwo einen Raum mit Tisch und Stühlen, wo wir dieses Gespräch fortsetzen können?«
»Was hältst du von den beiden?« fragt Judith, bevor sie auf dem Aschram-Parkplatz in ihre Autos steigen.
»Harmlose Spinner.« Manni wirft die Prospekte und die Adressliste auf den Beifahrersitz des Vectra. »Ich glaube nicht, dass die von Stettens einen ihrer Gäste oder Mitarbeiter erschossen haben. Warum sollten sie?«
»Ein Abtrünniger?«
»Abtrünnig wovon? Klar, wir müssen die Angaben noch überprüfen, aber soweit ich das verstanden habe, ist das keine Sekte, sondern eine offene Lebensgemeinschaft. Keine feste Konfession, man kann kommen und gehen, solange man sich an die Regeln hält.«
»Sagt Heiner von Stetten.«
»Sagt Heiner von Stetten. Aber überleg doch mal: Wenn jemand aus deinem Bekanntenkreis aus dem Sonnenhof einfach nicht wiederkommt – wo fängst du an zu suchen, was meldest du der Polizei? Den Sonnenhof natürlich. So doof ist Heiner von Stetten nicht, dass er sich die Leiche quasi vor die Haustür legt.«
Überleg doch mal. So weit ist es gekommen, dass ein Grünschnabel wie Manni derart von oben herab mit ihr spricht.
»Der Hochsitz ist immerhin zwei Kilometer entfernt vom Sonnenhof. Und weder dieser Rotschopf noch Beate von Stetten wirken auf mich sehr vertrauenswürdig.« Der Anflug von Harmonie mit Manni, den sie während des Verhörs mit den von Stettens gefühlt hat, ist verflogen. Judiths Stimme klingt aggressiv, was sie ärgert. Sie will sich gegenüber Manni keine Blöße geben. Vor allem will sie ihre Ruhe haben. Sie wünscht ihn weit weg. »Ist ja auch egal, was wir vermuten. Erst mal müssen wir die Identität des Toten klären.«
Manni schwingt sich in sein Auto.
»Klar müssen wir das. Aber wenn ich jemanden umgebracht hätte, würde ich schauen, dass ich die Leiche jemand anderem vor die Tür lege.«
***
Diana Westermann läuft mit schnellen, wütenden Schritten vor ihrem Kamin auf und ab. Dieser Manfred Korzilius hat sie eiskalt gelinkt. Erst hat er den Kavalier gespielt und dann den knallharten Schnüffler rausgehängt. Und sie hat sich überrumpeln lassen. Den Waffenschrank in der Diele hat er komplett ausgeräumt: Schrotflinte, Mauser-Büchse, Munition – alles weg. Danach ist er, ohne auch nur zu fragen, in ihr Wohnzimmer getrampelt und hat ihre Kleinkaliber-Anschütz von der Wand gerissen. Gegrinst hat er dabei. Und dann musste sie ihn auch noch in ihr Büro führen. Am liebsten hätte er dort ihren Anrufbeantworter abgehört, da ist sie sicher, aber das hat er dann doch nicht gewagt. Sie gibt dem Korb mit den Holzscheiten einen Tritt. Sie kann einfach nicht still sitzen. Luft, sie braucht frische Luft, sie öffnet die Hintertür zum Garten und atmet in tiefen Zügen. Die Nacht scheint auf das alte Forsthaus zuzurobben, der Wald ist eine schwarze Wand.
Ob sie noch mehr Waffen besitze, hat er gefragt. Sie hat den Kopf geschüttelt. Die alte Hahndoppelflinte, die sie von Alfred Hesse geerbt hat, geht die Polizei nichts an. Sie hängt in einer Befestigung aus Lederschlaufen gut versteckt unter Dianas Bett. Ihr Amtsvorgänger hat diese Aufhängung geknüpft, lange bevor die Arthritis seine Finger verbog. Man muss gewappnet sein, wenn man allein mitten im Wald lebt, hat er gesagt. Die Hahndoppelflinte gehört nicht ihr, sondern dem Forsthaus, insofern hat sie den Beamten mit seiner albernen Silberjacke nicht einmal angelogen. Außerdem hat er es nicht anders verdient.
Sie läuft ins Schlafzimmer und zieht die Flinte aus ihrem Versteck. Erst vor drei Wochen hat sie sie
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